Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
waren. Kleine Bündel lagen neben ihnen, dazu Speere, mit Pfeilen gefüllte Köcher und Bogen. Vor ihnen stand wartend ein junges Mädchen der Kyrinin, reglos und geduldiger als jedes Menschenkind. Die Kleine sah zu, wie Ess’yr und Varryn lange Lederschnüre durch ihre Finger gleiten ließen und in bestimmten Abständen mit Knoten versahen. Orisian, der die tiefe Konzentration der kleinen Gruppe nicht stören wollte, blieb ein wenig abseits stehen. Das Schwert des Leibwächters lag auf dem Boden. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, hob Rothe die Waffe auf, zog sie aus der Scheide und untersuchte sie bis in die kleinste Einzelheit.
Die beiden Kyrinin schlangen weiterhin sorgfältig Knoten um Knoten und feuchteten jeden mit Speichel an, ehe sie ihn festzogen. Schließlich vollendeten sie ihr Werk fast gleichzeitig. Das Mädchen nahm die Knotenschnüre entgegen und entfernte sich.
Ess’yr wandte sich Orisian zu. Sie zog aus der Innenseite ihrer Jacke ein dünn geschliffenes Wurfmesser mit einem glatten Holzgriff, an dem sich kein Quersteg befand.
»Das steckte in dir«, sagte sie und streckte Orisian das Messer entgegen. »Du hast keine Waffe. Nimm es.«
Er griff danach und schob es in den Gürtel. Es erinnerte ihn an seine Wunde, und einen Moment lang spürte er wieder den Schmerz in der Seite, aber es war besser, dieses Messer zu haben als gar keines.
»Eine Inkallim-Klinge«, bemerkte Rothe mit einer Spur von Bewunderung in der Stimme. »Eine seltene Trophäe.«
Wortlos erhoben sich Ess’yr und Varryn, nahmen ihre Bündel und Waffen und strebten dem Wald entgegen. Orisian und Rothe wechselten einen Blick. Rothe zuckte mit den Schultern. Dann folgten sie den Kyrinin, die sich rasch vom Vo’an entfernten.
Sie waren bereits eine Weile unterwegs, ehe es Orisian über sich brachte, Ess’yr zu fragen, welche Bedeutung die Knotenschnüre aus Leder hatten.
»Ein Knoten ist ein Gedanke«, erklärte sie. »Du denkst an Menschen, bestimmte Zeiten, Orte, das Leben. Das tun wir immer vor einer Reise. Wenn wir nicht zurückkehren, lebendig oder als Tote, wird die Schnur im Dyn Hane begraben. Sie bindet unsere Geister an die Weide. Wir sind dann nicht ruhelos.«
Die beiden Kyrinin legten einen eiligen Schritt vor. Der Wald war licht, mit breiten Grasstreifen zwischen den einzelnen Gehölzen. Alle paar hundert Schritte kamen sie an einer geschützten Stelle mit einer alten Eiche vorbei. Oft änderten sie unter dem Geäst einer dieser Eichen die Richtung, und Orisian hegte den Verdacht, dass die knorrigen Bäume den Kyrinin als Wegweiser dienten, als Markierungen auf einer unsichtbaren Karte, die sie im Gedächtnis hatten.
»Wie weit ist es nach Anduran?«, rief er nach vorn.
»Nicht weit«, entgegnete Ess’yr, ohne sich auch nur umzudrehen.
Sie erreichten schwierigeres Gelände mit umgestürzten Bäumen und einem Gewirr von Jungpflanzen, die in der Umgebung der toten Stämme aus dem Boden gesprossen waren. Varryn führte sie mitten durch das Unterholz. Orisian und Rothe fiel es schwer, sich einen Weg zu bahnen. Als sie zerkratzt und abgekämpft auf der anderen Seite des Dickichts auftauchten, stand der Kyrinin-Krieger, auf seinen Speer gestützt da, als hätte er unendlich lange Zeit auf sie gewartet.
»Ein verwundeter Eber ist nicht so laut«, stellte er fest.
Rothe wirkte so beleidigt, dass Orisian laut gelacht hätte, wäre nicht zu befürchten gewesen, dass die kränkenden Worte der beiden Krieger irgendwann in einen handgreiflichen Streit ausarteten. Sein Beschützer fand jedoch keine Gelegenheit zu einer scharfen Erwiderung, denn Varryn drehte sich nach dem Tadel brüsk um und setzte seinen Weg fort.
»Ein verwundeter Eber …«, knurrte Rothe. »So weit musste es kommen … dass wir Waldmenschen durch die Wildnis nachlaufen wie kleine Kinder. Mir ist schon ein Bart gewachsen, ehe dieser … dieser Elf auch nur eine Beule in der Hose seines Vaters war.«
»Es ist traurig«, pflichtete Orisian ihm bei. »Aber wir sollten dennoch versuchen, mit ihm Schritt zu halten.«
Und so folgten sie den beiden Kyrinin entlang der Südflanke des Car Criagar in Richtung Anduran.
IN JENEN TAGEN , da Monach oc Kilkry Hoch-Than in Kolkyre war und sein Haus seit beinahe hundert Jahren über alle anderen Häuser regierte, fiel in Kilvale das Weib eines Fischers namens Amanath in einen tiefen Schlummer, aus dem sie drei Tage und drei Nächte nicht mehr erwachte. Ihre Familie dachte schon, sie habe ihre Reise in den Dunklen
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