Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Zeltöffnung erreicht hatte, überkamen ihn neue Zweifel.
»Steht es uns frei, das Vo’an zu verlassen?«, fragte er.
»Wir werden darüber nachdenken«, war alles, was In’hynyr sagte.
VI
Er saß viele Stunden mit überkreuzten Beinen im Zelteingang. Sie hatten ihm einen Umhang aus Marderfellen gegeben, der so stark roch, als habe man die Tiere eben erst gehäutet. Er brauchte ihn, da die Luft mit jedem Tag frostiger wurde.
Noch zwei Wochen und ein Leben zuvor wäre es für ihn die Erfüllung eines Traums gewesen, mitten in einem Lager der Füchse zu sitzen. Selbst jetzt, trotz der quälenden Erinnerungen an die Ereignisse, die ihn hierhergebracht hatten, bemerkte er, dass hier Stille und ein entrückter Frieden herrschten. Die Kyrinin, ob Erwachsene oder Kinder, setzten ihre Schritte ungemein genau und ausgewogen. Selbst die Ältesten unter ihnen, die ein wenig eingefallen und gebeugt wirkten, bewahrten sich eine natürliche Anmut, die Orisian bei seiner eigenen Rasse nie gesehen hatte. Die Erwachsenen zeigten große Nachsicht mit den Kinderhorden, die zwischen den Zelten tobten. Sie schauten ihnen zu und beteiligten sich hin und wieder an ihren Ringkämpfen und Fangspielen. Orisian hörte nie, dass sie die Stimmen verärgert oder zornig erhoben.
Graue Wolken und Regenschauer zogen vorüber, aber die meiste Zeit war der Himmel klar. Das Sonnenlicht warf die schroffen Schatten kahler Bäume über das Lager und ließ das Gras grün wie im Sommer leuchten. Schwärme kleiner Vögel zogen mit Gezwitscher durch das Vo’an . Die Kyrinin kamen und gingen. Sie jagten, sammelten Feuerholz und bereiteten ihre Mahlzeiten zu wie Bewohner eines ganz gewöhnlichen Dorfs.
Aber inmitten der vertrauten Dinge gab es ständig Hinweise, dass er sich weit weg von dem Leben befand, das er kannte und verstand. Das große, aus Zweigen geflochtene Gesicht, das über das Herz des Vo’an Wache zu halten schien, flößte ihm Unbehagen ein. Hin und wieder sah er, wie Kyrinin es mit den Fingerspitzen berührten und ein paar Worte murmelten. Die mit Tierschädeln geschmückten Pfähle hatten in einem bestimmten Licht etwas Bedrohliches an sich. Am meisten aber beunruhigte ihn, wenn einer der Füchse im Schatten der Zelte stand und ihn anstarrte. Und wenn er den Blick erwiderte, löste er damit keine Verlegenheit aus, wie das bei neugierigen Menschen der Fall gewesen wäre. Immer war er es, der zuerst wegschaute.
Ein- oder zweimal am Tag durfte er eine Weile mit Rothe zusammen sein. Rothes gedämpfte Stimme verriet Sorge um Orisian, und er schmiedete Pläne, wie sie entkommen konnten, sobald sie kräftig genug waren für ein solches Unterfangen. Orisian wusste, dass sie das Lager niemals ohne das Einverständnis der Füchse verlassen durften; ihre Sicherheit beruhte auf Vernunft und Geduld, nicht auf einer Flucht. Im Grunde seines Herzens musste das auch Rothe klar sein. Vielleicht wollte er mit seinen Reden auch nur erreichen, dass Orisian nicht den Mut verlor. Wenn das der Fall war, dann machte jeder dem anderen etwas vor, denn Orisian hatte seinem Leibwächter nichts von seiner Begegnung mit der Vo’an’tyr erzählt. Es war sicher nicht hilfreich, wenn Rothe erfuhr, dass ihr Schicksal immer noch an einem seidenen Faden hing.
Ess’yr besuchte ihn oft. Manchmal brachte sie ihm Essen, und manchmal versorgte sie seine Wunde. Manchmal kam sie auch ohne ersichtlichen Grund. Mit der Zeit freute er sich auf ihr Erscheinen. Obwohl sie selten lächelte, spürte er unterschwellig den guten Willen, der von ihrem Wesen ausging. Dennoch sprach auch sie seltsam gewunden, genau wie In’hynyr es getan hatte, und er wurde das Gefühl nicht los, dass er nur die Hälfte von dem verstand, was sie sagte.
Manchmal beantwortete sie seine Fragen. Wie viele Leute im Vo’an lebten, wollte er wissen. Zwei- bis dreihundert, entgegnete sie, sieben A’an , die sich im Frühjahr wieder trennen und in den Wäldern verteilen würden. Wo sich ihre Familie befand, erkundigte er sich. Ihre Eltern waren bereits zur Weide gegangen, erfuhr er. Und ihr Bruder war auf der Jagd im Car Criagar.
Sobald Orisian jedoch eine Frage stellte, die irgendeine unsichtbare Grenze überschritt, stockte die Unterhaltung. Dann tat sie, als habe sie nicht gehört, was er sagte, oder sie ging ganz einfach. Sie weigerte sich ebenso, über sein und Rothes Schicksal zu sprechen, wie sie auswich, wenn die Rede auf Inurian kam. Und als er Näheres über das riesige, gespenstische Gesicht
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