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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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aus Zweigen und Ästen in Erfahrung bringen wollte, das über das Lager wachte, schüttelte sie kaum merklich den Kopf. Er lernte, seine Worte mit Bedacht zu wählen.
    Nachts lag er, umgeben von den fremdartigen Gerüchen des Kyrinin-Zelts, auf seinem Lager, sehnte den Schlaf herbei und horchte auf die unbekannten Geräusche des Waldes und des Vo’an . In jenen einsamsten Stunden der Dunkelheit führte er einen aussichtslosen Kampf gegen die Bilder und Erinnerungen, die auf ihn einströmten, die Bilder von Burg Kolglas in der Nacht der Winterwende. Doch die Person, nach der er sich am meisten sehnte, deren Abwesenheit mehr schmerzte als alles andere, war jemand, den er schon vor langer Zeit verloren hatte – seine Mutter Lairis. Die Wunde war frisch aufgerissen, und die Leere, die ihr Tod in seinem Leben hinterlassen hatte, klaffte so gewaltig wie eh und je. Er schmiegte sich in seine Felldecken, als wären es ihre Arme, die ihn umfingen.

    Am Morgen des vierten Tages nach seinem Erwachen, als Ess’yr ihm eine Schale mit dünner Brühe brachte, spürte er, dass sich etwas verändert hatte. Sie strahlte eine Leichtigkeit aus, die er bisher nicht wahrgenommen hatte. Er fragte, ob In’hynyr zu einer Entscheidung gelangt sei, aber Ess’yr überhörte die Frage.
    »Mein Bruder ist zurück«, sagte sie. »Er will dich sehen.«
    Der hochgewachsene, schlanke Jäger, den Ess’yr später mitbrachte, beeindruckte Orisian mehr als jeder andere Kyrinin, den er bisher gesehen hatte. Durch sein bloßes Eintreten nahm er wortlos Besitz von seiner Umgebung. Sein langes, silbriges Haar hatte einen metallischen Schimmer. Die straffe Gesichtshaut war von einem verschlungenen Muster aus dunkelblauen Spiralen bedeckt. Die rauchgrauen Augen blieben unbewegt. Nur seine Mundwinkel zuckten kaum merklich beim Anblick des jungen Huanin, der auf dem Schlaflager kauerte.
    »Mein Bruder«, sagte Ess’yr. »Varryn.«
    »Ich heiße Orisian«, sagte er und ärgerte sich, dass sein Herz schneller schlug.
    Der Kyrinin hielt den Kopf schräg und verengte die Augen zu einem schmalen Spalt. Orisian fühlte sich von diesen Blicken geradezu aufgespießt.
    » Ulyin «, sagte Varryn und stürmte in den Morgen hinaus.
    Ess’yr starrte ihm nach und fuhr sich kurz mit den weißen Fingernägeln über die Wange. Orisian räusperte sich. »Was bedeutet Ulyin ?«, fragte er.
    »Vogeljunges. Noch ohne Federn. Manchmal fallen sie aus den Nestern.« Sie schaute ihn an. »Die Jagd war nicht gut«, ergänzte sie und folgte ihrem Bruder.

    Er begegnete Varryn noch einmal am Nachmittag des gleichen Tages, als Ess’yr ihn aus dem Zelt und zu einem der Feuer führte, wo ihn eine Schale mit Eintopf erwartete. Während sie Seite an Seite saßen und schweigend aßen, gesellte sich ihr Bruder zu ihnen. Orisian beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Vorsicht und Neugier hielten sich die Waage, als er das über und über mit Tätowierungen bedeckte Gesicht des Kyrinin studierte. Schließlich stellte er die Schale ab und wandte sich ohne Umschweife an Varryn.
    »Was …« Orisian zögerte. »Was bedeuten diese Zeichen? Auf deiner Haut?«
    Ess’yr ergriff das Wort, ehe ihr Bruder etwas sagen konnte. »Wir nennen es Kin’thyn . Bei ihm ist es dreifach. Sehr wenige schaffen das.«
    Sie flüsterte Varryn etwas zu. Wieder fiel Orisian auf, wie leicht ihre Stimme dahinfloss, wenn sie ihre eigene Sprache verwendete. Varryn nickte zustimmend.
    »Er hat nichts dagegen, wenn ich erzähle, wie er die Kin’thyn gewann. Willst du es hören?«, fragte sie Orisian.
    »Ja, sehr gern.«
    »Das erste Kin’thyn bekam er, als er dreizehn Sommer zählte.« In Ess’yrs Tonfall schwang Bewunderung mit. »Er war in einem Speer- A’an von Tyn’vyr. Auf dem Gebiet der Schleiereulen. Sie folgten dem Feind fünf Tage lang. Er versteckte sich hinter einem Baum und traf einen erfahrenen Krieger mit einem Pfeil. Das zweite Kin’thyn erhielt er mit fünfzehn. Ein Speer- A’an des Feindes griff an. Im Nahkampf besiegte er einen Gegner mit dem Messer. Dann vergingen viele Sommer bis zum dritten. Kyrkyn rief ein Speer- A’an zusammen. Sie durchquerten das Tal, zogen tief ins Feindesland. Sie fanden eine Familie am Wasser und schickten sie zur Weide. Alle. Varryn nahm das Feuer aus ihrem Lager. Sie wollten zum Fluss, aber der Feind war hinter ihnen her wie die Wolfsrasse. Viele starben. Kyrkyn. Und noch zehn. Fünf konnten den Wald verlassen und heimkehren. Varryn brachte das Feuer mit. Nur dafür

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