Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Schlaf angetreten. Sie sangen Lieder der Trauer und salbten ihre Lider mit Öl. Am vierten Tag aber schlug sie die Augen auf und begann zu sprechen. Sie sprach vom Verhüllten Gott, vom Letzten Gott, der geblieben war, als seine Geschwister die Welt verließen. Sie sprach vom Kall – dem Tag, an dem die Menschheit durch den Glauben des Pfads vereint sein würde; dem Tag, an dem die Götter dem Ruf der Vereinten Menschheit folgen und zurückkehren würden, um die Welt zu vernichten und dann neu zu erschaffen. Und sie verkündete, dass es nur für die treuen Anhänger des Glaubens eine Wiedergeburt in der neuen Welt geben werde.
Den Mächtigen gefielen die Lehren des Fischerweibs ganz und gar nicht. Der Hoch-Than ließ sie durch seine Männer ergreifen und an einer Esche aufhängen. Furcht breitete sich unter den Thanen aus – mit einer Ausnahme: Avann oc Gyre-Kilkry, der über Kan Avor herrschte, hörte Amanaths Worte und nahm sie sich zu Herzen. Er scharte all jene um sich, die wie er die Wahrheit sahen, und bot ihnen Zuflucht. Und als es zum Krieg kam, stand sein Haus im Namen jener Wahrheit gegen alle anderen Häuser.
Avann war es, der nach dem Fall von Kan Avor die Zehntausend durch das Tal der Steine in den Norden führte. Dort lebt die Wahrheit bis zum heutigen Tag in den Häusern, die er gründete, und ihre Flamme brennt weiter mit unverminderter Kraft.
Höret, die ihr Ohren habt, um zu hören! Dies ist die Wahrheit, die Amanath verkündete: Lasset ab vom Stolz und lasset ab von der Furcht, denn euer Todestag ist längst im Buch des Letzten Gottes festgehalten. Es gibt nur den einen Pfad der Vorsehung. Es gibt nur den Schwarzen Pfad .
Kommentar eines unbekannten Verfassers zum
Buch des Schwarzen Pfads
I
Die mächtigen, von den letzten Strahlen der Abendsonne umspielten Wälle der Stadt Vaymouth ragten hoch über Taim Narran dar Lannis-Haig und seine Krieger auf. Die Residenz des Hauses Haig hatte sich in den letzten hundert Jahren zur wohl größten Stadt der Welt entwickelt. Ihre Befestigungen übertrafen alles seit dem Untergang der Strahlenden Stadt der Kyrinin. Die ehernen Flügel des vergoldeten Südtors standen offen. Seitlich davon erwartete eine kleine Schar von Wachtposten, auf ihre Speere gestützt, gleichgültig die Ankunft des Soldatenzuges. Die Bettler, deren elende Behausungen sich dicht an die Stadtmauer drängten, säumten die Straße und streckten den Kämpfern des Hauses Lannis-Haig die Hände entgegen.
Je näher er kam, umso deutlicher spürte Taim die vertraute Abneigung gegen die Hauptstadt und den Prunk, den sie verkörperte. Er hätte sie am liebsten ganz gemieden und seinen Weg über die Küstenebenen und die Ländereien von Ayth-Haig nach Norden fortgesetzt, aber einige seiner Leute waren so geschwächt, dass sie eine Rast brauchten. Zehn Männer hatte er auf dem Rückmarsch von den Dargannan-Haig-Bergen bereits verloren. Er war es müde, behelfsmäßige Scheiterhaufen neben der Straße aufzuschichten, um Tote zu verbrennen.
Als er durch das Tor ritt, umfing ihn der Schatten der Wälle wie der Rachen eines riesigen Ungeheuers. Eine Gestalt trat ihm in den Weg. Mit einem Gefühl kalter Schicksalsergebenheit erkannte Taim den Mann, der ihm Einhalt gebot: Mordyn Jerain, der Kanzler des Hoch-Thans. Der in Tal Dyre geborene und aufgewachsene, aber bereits vor langer Zeit in Vaymouth aufgenommene Jerain stand Gryvan oc Haig nun seit knapp zwanzig Jahren zur Seite. Er war ein gut aussehender, braunhaariger Mann mit knappen, exakten Bewegungen, stets sprungbereit und auf der Lauer. Er trug seine Macht mit großer Ungezwungenheit zur Schau. Und er hatte einen finsteren Ruf. Überall dort, wo die Intrigen am Hof des Hauses Haig auf Ablehnung stießen, nannte man den Kanzler die Schattenhand.
»Ich hörte von Eurem Rückmarsch«, sagte Mordyn, als Taim sein Pferd zügelte.
»Natürlich.«
Der Kanzler lächelte. Er hatte ein strahlendes und zugleich hohles Lächeln. »Ich begab mich hierher, um Euch zu treffen.« Das war offensichtlich. »Es gibt wichtige Dinge zu besprechen.«
»Ich habe erschöpfte, verwundete Männer bei mir, die dringend einer Rast bedürfen. Das ist der einzige Zweck meines Besuchs. Ich erhielt die Erlaubnis, meine Leute im Schutz dieser Stadtmauern unterzubringen. Sobald sie sich ein wenig erholt haben, ziehen wir weiter.«
Mordyn verengte die Augen und legte eine gepflegte Hand auf den Zügel von Taims Pferd.
»Ich bin der Kanzler des Hauses Haig, Narran,
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