Wintzenried: Roman (German Edition)
Jean-Jacques weiß das. Trotzdem schiebt er es immer bis zum Ende auf und hofft, dass der Pfarrer es vergisst.
Für Jean-Jacques könnte dieses Leben noch lange so weitergehen: morgens in der Messe, danach Latein, den Rest des Tages für sich und abends Musik.
Dass der Organist Streit mit dem Dompfarrer bekommt, dass er von heute auf morgen abreisen und dass er Jean-Jacques mit nach Lyon nehmen will, passt ihm nicht. Doch Mama besteht darauf, dass er diese Gelegenheit nutzt und in Lyon etwas aus sich macht. Tatsächlich könnte er dort ein berühmter Musiker werden. In Lyon soll sogar gelegentlich Monsieur Rameau, der größte Komponist Frankreichs, ein Konzert geben. Jean-Jacques trägt seit Wochen dessen Harmonielehre mit sich in der Tasche herum.
Mama drückt ihn beim Abschied an sich. Als die Kutsche losfährt, kommen ihrem Kleinen die Tränen. Zum ersten Mal im Leben hat er eine Mutter gehabt. Seine wirkliche ist im Kindbett gestorben.
Bis heute kann er das leise Gefühl nicht loswerden, Papa könnte ihm an ihrem Tod ein wenig Schuld geben. Obwohl Papa nie eine entsprechende Andeutung gemacht hat. Auch sein Bruder nicht, der inzwischen verschollen ist. Ein Herumtreiber und Säufer. Dass Papa fliehen musste, weil er sich mit einem französischen Offizier geprügelt hatte, war das nächste Unglück. Sein Onkel, zu dem er ihn steckte, schob ihn sofort zu Madame Lambercier ab. Noch heute möchte er von ihr geschlagen werden. Nur wollte Madame Lambercier ihn nach zwei Jahren auch nicht mehr haben. Der Graveur, bei dem er dann unterkam, schrie ihn den ganzen Tag an. Und dann war an einem Sonntag das Stadttor schon zum zweiten Mal zu, als er von einem Ausflug zurückkam. Drei Tage Arrest wollte er nicht noch ein zweites Mal erleben müssen. Er ist dann einfach durch die Nacht gewandert, Richtung Savoyen, und hat am nächsten Morgen in einem Pfarrhaus angeklopft, wo man ihm die Adresse einer frommen Frau in Annecy gab. Ein paar Tage später musste er nichts weiter tun, als zum Katholizismus überzutreten, um zum ersten Mal eine richtige Mama zu bekommen. Eine mit Brüsten, die er nie vergessen wird.
Kaum in Lyon angekommen, fängt der Organist auf der Straße auf einmal an zu grimassieren, bekommt plötzlich Schaum um den Mund und bricht zuckend zusammen. Jean-Jacques rennt weg, zurück zur Poststation, und besteigt die nächste Kutsche in Richtung Savoyen.
Drei Tage später ist er wieder bei Mama daheim. Nur ist sie nicht da. Die Tür verschlossen. Auch kein Gärtner weit und breit. Es ist, als wohnte hier seit langem keiner mehr.
Ein Nachbar will gesehen haben, wie sie bei Nacht mit einer Maske fluchtartig die Stadt in einer Kutsche verlassen hat, begleitet von ihrem Gärtner und einem Unbekannten. Die Kirche habe sie nicht mehr halten können, wegen ihres Lebenswandels. Auch der Prior sei nicht mehr da. Ins Schweigekloster versetzt, vielleicht sogar im Gefängnis, Genaues wisse man nicht. Dass es mit den Festen und Feiern nicht so habe weitergehen können, hätten hier alle gewusst, offenbar nur der Prior nicht.
Jean-Jacques sitzt die ganze Nacht im Garten. Manchmal weint er ein bisschen. Er ist jetzt so allein wie damals, als die Stadttore in Genf verschlossen waren. Er kann nur wieder heimgehen, wo keiner auf ihn wartet. Ein verlorener Sohn, der sich den Katholischen in den Schoß geworfen hat.
Und er braucht Geld. Mama hatte ihm immer schon gesagt: Hol dir endlich dein Erbe ab, bevor dein Vater alles für seine neue Frau hinausgeworfen hat.
Wie er von weitem den Genfer See sieht, bricht er in Tränen aus. Wie fremd es in der Fremde war, merkt er erst jetzt. Anders als in Annecy, wo man von den Alpen umringt ist, öffnet sich hier das Land, ein blühender Garten mit einem Himmel, der milder als überall anderswo leuchtet. So mächtig die Berge bei Mama auch emporragen mögen, so sehr hat er jetzt das Gefühl, als gelangte man aus der Enge endlich wieder ins Offene. Freundlicher scheint hier alles, die Luft ist lauer, verspielter das Licht und sogar munterer das Vogelgezwitscher. Sanft schwingen sich vom Ufer Weinberge in die Höhe, wohin immer man blickt, ein fruchtbares Land voll sommerlicher Heiterkeit, eine Welt, in der nur ein glückliches Volk leben kann.
Doch je näher er Genf kommt, umso mehr will sein inneres Jauchzen in Beklemmung umschlagen. Jean-Jacques bittet den Kutscher, langsamer zu fahren, was der aber nicht hören will. Als Jean-Jacques ihn ein zweites Mal darum bittet, schreit er von
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