Wintzenried: Roman (German Edition)
alles durcheinandergeht. Als dann Applaus aufbrandet, kann er ihn anfangs von der Musik kaum unterscheiden. Er wirkt auf ihn wie ein Angriff von hinten. Und als das Orchester von neuem einsetzt, fällt ihm ein, dass er zu klatschen vergessen hat, was man ihm, wie er fürchtet, als Anmaßung auslegen könnte. Als wartete er nur darauf, dass endlich sein eigenes Stück an der Reihe ist. Doch es dauert und dauert. Das Lärmen von vorn und von hinten will überhaupt nicht enden, Applaus und Getön, Getön und Applaus, sodass er zwischen dem, was in seinem Kopf vor sich geht, und dem, was hier tatsächlich stattfindet, überhaupt nicht mehr unterscheiden kann. Nie ist ihm etwas so endlos vorgekommen. Er will es so schnell wie möglich hinter sich gebracht haben. Andererseits könnte es seinetwegen mit den Stücken, die noch vor dem seinen kommen, endlos weitergehen, so lange, bis die Leute erschöpft nach Hause wollen. Er betet, es möge nie so weit kommen, dass er aufstehen und diese drei Stufen zum Podest hinaufschreiten muss, ohne noch zu wissen, welchen Fuß man dabei vor den anderen setzt, auf dem Weg zu seiner Selbstvernichtung, die auch seine Krönung sein könnte, denn ein Menuett, so sagt er sich immer wieder, hat noch jeder hinter sich gebracht, dafür muss man weder Rameau studiert haben noch eine einzige Note lesen können, es läuft wie von selbst, ganz von allein, eine Musik, die sich selbst spielt, nur dass er dafür verantwortlich ist, dass überhaupt einmal damit angefangen wird.
Tatsächlich winkt man ihn irgendwann heran, er hätte es fast nicht bemerkt, hat an etwas ganz anderes gedacht, tritt dann aber vor, verbeugt sich, alles klatscht. Und dann wird es still. So still, wie er Stille noch nie erlebt hat. Im Grunde ist es viel zu viel Stille für so ein kleines Menuett. Andererseits geht nichts schief, solange alles noch still ist. Wobei er sich fragt, wer jetzt eigentlich worauf wartet. Die Musikanten sind bereit, er ist es auch. Allerdings hat ihm keiner gesagt, ob man einen stummen Takt vorgibt oder sofort mit dem Einsatz beginnt. Er hätte, wirft er sich vor, dem Organisten, der jetzt vielleicht schon tot ist, genauer zuschauen müssen. Oder wenigstens den Dirigenten, die gerade vor ihm dran waren. Zeit dazu hätte er genug gehabt, doch weil er so viel denken musste, hat er überhaupt nicht daran gedacht, dass man ihnen zuschauen müsste, und sei es nur, um zu erfahren, ob man einen stummen Takt vorgibt oder nicht. Fragen kann er jetzt nicht mehr. Es wäre lächerlich. Er kann nicht zum Ersten Geiger ans Pult treten und ihm ins Ohr flüstern: Wie halten Sie es? Wollen Sie einen stummen Takt voraus oder nicht? Andererseits, wer hätte je gedacht, dass er in Lausanne einmal vor vollem Saal ein eigenes Stück dirigieren wird? Nur muss er jetzt endlich mit Denken aufhören und anfangen. Weiß aber immer noch nicht, wie. Weshalb er zuerst einmal nickt. Worauf der Konzertmeister zurücknickt, dieses Nicken jedoch beinahe wie ein Befehl wirkt. Ein heiteres Nicken jedenfalls ist es nicht. Witz scheint dieser Mann nicht zu besitzen. Weshalb Jean-Jacques, der heute als Vaussore de Villeneuve vor diesen Musikern steht, nochmals nickt, und zwar zur anderen Seite hinüber. Nicken, denkt er, ist immer gut. Mit Nicken stimmt man die Leute günstig. Mit Nicken ist noch nie etwas schiefgegangen. In der ganzen Welt nicht. Nur dass sein Nicken diese stierenden Musiker nicht freundlicher stimmen will. Sie scheinen zu allem bereit und warten nur darauf. Mit Freude, so hat Jean-Jacques den Eindruck, hat ihre Arbeit nichts zu tun. Sie wollen spielen. Was auch sein Wille ist. Also hebt er die Arme in die Höhe, fängt an, mit ihnen zu rudern, schüttelt sie immer heftiger, bloß dass kein Einziger von denen, die da vor ihm sitzen, zu spielen anfängt.
Er lässt die Arme wieder sinken, nickt noch einmal, lächelt ein bisschen. Es muss exakter sein, sagt er sich, so exakt, dass kein einziges Missverständnis mehr aufkommen kann. Was heißt, dass man ein letztes Mal durchatmen und für eine Konzentration sorgen muss, die sich wie magisch auf alle überträgt. Ein richtiger Ruck muss durch sie hindurchgehen, ein Ruck, der sie auf einen Schlag mitreißt, so sehr, dass der Rest ganz von allein läuft und man am Ende nur staunen kann, wie leicht das alles ging. Es muss ein Menuett-Rausch sein, der nur einen winzigen Anstoß braucht und bei dem es vollkommen egal ist, ob es einen Dirigenten gibt oder nicht. Doch ein Anfang
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