Wintzenried: Roman (German Edition)
Nacht arbeitet er an seinem Werk, bringt es mit Mühe auf sechzehn Takte, dazu ein Zwischenspiel mit weiteren zwölf, an dessen Ende die ersten sechzehn wiederholt werden. Wiederholungen gehören beim Menuett dazu, das weiß er. Wiederholungen sind sein Glück. Mit Wiederholungen ist er gerettet.
Zwei Stunden vor dem Konzert liefert er das Stück ab. Eine Probe brauche man für so etwas nicht, doch er müsse das Stück selbst dirigieren, heißt es. Wovon der Professor ihm vor zwei Wochen überhaupt nichts gesagt hat, es jedoch offenbar so üblich ist, was die Sache allerdings keineswegs einfacher macht. Das Menuett an sich hat ihn bereits an die Grenzen der Erschöpfung gebracht, und jetzt soll er es auch noch selbst dirigieren. Sein Lebtag hat er noch nie jemandem den Takt vorgegeben, schon gar nicht einem ganzen Orchester, allenfalls daheim bei Mama in der Küche, wo er beim Singen manchmal ein bisschen herumgefuchtelt und sich damit selbst angetrieben hat. Andererseits, sagt er sich, kriegt einen Dreivierteltakt jeder hin, ein Menuett läuft wie von selbst, man winkt ihm hinterher. Kaum hat es angefangen, ist es schon wieder vorbei. Nur müsste man, sagt er sich, es wenigstens ein einziges Mal probiert haben, auch wenn es bloß ein Dreivierteltakt ist.
Er versteckt sich hinter der Bühne, fängt heimlich an zu üben, gestikuliert in die leere Luft hinein, gibt Einsätze und Zeichen, singt mit stummem Mund übertrieben die Melodie mit, blickt mal streng, mal anerkennend, so wie es der Organist auf der Empore auch immer macht, wenn sich der Kirchenchor beim Hochamt um feierliche Töne bemüht. Viel wäre schon gewonnen, wenn bei der Aufführung keiner sieht, wie er zittert und der Schweiß an ihm hinabläuft. Schlimmstenfalls wird ihm schwarz vor Augen. Herzrasen hat er jetzt schon. Auf keinen Fall darf es ihm wie dem Organisten in Lyon ergehen. Irgendwann fangen epileptische Anfälle immer zum ersten Mal an. Man hat sie nie gehabt, und plötzlich sind sie da, schlimmstenfalls vor einem ganzen Saal, mit Augenrollen, Zuckungen und Schaum vor dem Mund. Er kann nur hoffen, dass keiner sieht, wie er hinter dem Vorhang probiert. Aber er muss weiterprobieren, glaubt, dass man bei der Eins oben anfängt, dann die Hand nach unten haut und die Drei irgendwie wegwischt, nicht mehr und nicht weniger, was man dann einfach durchhalten muss, sechzehn Takte lang, mit einem Zwischenspiel und einer Wiederholung am Ende, nur dass man nicht schneller werden, aber auch nicht zu langsam anfangen darf, vor allem nicht bei einem Menuett. Nicht zu schnell, nicht zu langsam, sondern exakt dazwischen, sodass es weder schleppt noch verhetzt wirkt. Am besten, man denkt nicht viel dabei, und zwar schon deshalb nicht, weil im Grunde ja gar nichts schiefgehen kann. Ein Menuett ist keine Tragödie. Heiter, beschwingt, eine fröhliche Sache. Kaum hat es angefangen, ist es vorbei. Die Leute werden klatschen und lachen und mehr davon wollen. Er wird sich verbeugen, einmal, zweimal, dreimal, dann wird er abtreten, und alle werden ihm nachschauen. Das Wichtigste, man sieht entschieden aus und wirkt gelassen zugleich. Vor allem dann, wenn man vors Orchester tritt. Ein Orchester braucht Strenge, selbst bei einem Menuett. Nur weiß er beim besten Willen nicht, was man mit der Linken anfangen soll, solange die Rechte eins, zwei, drei schlägt. Schlaff hängen lassen geht nicht, weshalb man sie am besten einfach mitrudern lässt. Oder er setzt sie nur für die Betonung der Eins ein, schließlich darf man die Linke auch nicht zu wichtig nehmen. Und zwischendurch kann sie einfach irgendetwas abbremsen, als hätte auf der linken Seite einer zu laut gespielt. So etwas sieht immer gut aus. Da denken die Leute im Saal sofort, dieser Mann hat ein ungemein genaues Gehör. Allerdings bräuchte man dafür noch Zeit zum Üben. Und diese Zeit hat er nicht. Am Ende hilft nur Lächeln. Nicken und Lächeln.
Er darf in der ersten Reihe sitzen und wird, wenn es so weit ist, auf die Bühne gewinkt. Der Herr Professor hält eine Ansprache. Schließlich nennt er auch seinen Namen. Vaussore de Villeneuve, sagt er, ist heute unter uns, ein vielversprechender junger Komponist. Dann fängt es an. Jean-Jacques vernimmt nur ein einziges lärmendes, bedrohliches Geräusch, als würde das ganze Orchester sich gegen ihn verschwören und schon jetzt prüfen, ob er überhaupt einzelne Stimmen heraushören kann. Aber er weiß nur, dass es Geigen, Trompeten und Flöten sind. Und dass
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