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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
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übrig bleibt. In Môtiers ließ er den Notar aus Neuchâtel kommen, um ihm aufzutragen, im Falle seines Ablebens möge man den Burgherrn bitten, sich um Thérèse zu kümmern. Das Testament wurde Jahre später in England, im Schloss von Mister Davenport, gefunden, wo Jean-Jacques es bei seinem fluchtartigen Aufbruch offenbar liegengelassen hatte. Nur Thérèse selbst hielt nie ein Testament von ihm in Händen, genauso wenig wie eine Heiratsurkunde.
    Was hätte aus Jean-Jacques ohne sie noch alles werden können, heißt es inzwischen. Er müsse blind gewesen sein. Blind und fürchterlich bedürftig. Hätte er sie nur als eine Art Nutte benutzt, kein einziger vernünftiger Mensch hätte darüber den Kopf schütteln müssen und eine solche Schwäche unter seinen inzwischen allseits bekannten Sonderlichkeiten verbucht. Dass der große Rousseau gern geschlagen werden wollte und in den Turiner Alleen Frauen mit seinem Gemächte erschreckte, dass er sich mit seinem ständigen Onanieren-Müssen die Gesundheit ruinierte und er vor jeder Adligen niederknien und sie anbeten musste, weiß die Welt inzwischen aus seinen Bekenntnissen . All das könnte man verstehen, nur die Geschichte mit Thérèse lässt sich kaum nachvollziehen. Vor allem die Helden der Revolution hätten sich alles andere an seiner Seite gewünscht als ein solches Putzweib, dem man bereits von weitem die Liebe zum Schnaps ansieht.
    Sosehr der Marquis auch schäumt, so wenig kann er gegen den in Paris beschlossenen Willen des Volkes ausrichten, Jean-Jacques im Pantheon unsterblich zu machen. Sechzehn Jahre lang durfte er der krönende Teil seines Paradieses sein, jetzt aber soll er der Menschheit zugänglich gemacht werden.
    Aus Paris treffen eines Tages Totengräber und Revolutionäre auf seinem Schloss ein. Nachts im Mondschein machen sie sich, umflackert von Fackeln, daran, Jean-Jacques’ noch übrig gebliebene Gebeine auszugraben. Wieder stehen die Leute vom Dorf am anderen Ufer und schauen zu.
    In den Morgenstunden ist aus einer kleinen Schar, die mit seinen Überresten die Pappelinsel um Mitternacht verließ, bereits eine ganze Prozession geworden. Von überallher strömen Jung und Alt zusammen, die Nationalgarde führt inzwischen den Zug an, und eine Blaskapelle spielt Jean-Jacques’ Lieblingsmelodien. Die Straßen sind mit Blumen gepflastert. Die Gendarmerie sorgt für Ordnung. Thérèse winkt aus einer Kutsche dem Volk zu und versucht, huldvoll zu lächeln. Girardin hat sich in seinem Schloss verbarrikadiert und wünscht Frankreich den Untergang.
    Gegen Mittag erreicht der immer weiter anschwellende Zug Paris, wo Abertausende ihn bereits seit dem ersten Morgengrauen an allen Ecken und Enden ungeduldig erwarten. Die Leute klatschen, tanzen, singen. Durch die ganze Stadt ziehen Blumenmädchen, Mütter mit Kindern und Fahnen schwenkende Männer. Musikanten blasen bis weit in die Nacht hinein Freuden- und Trauerlieder durcheinander, als fielen Karfreitag und Auferstehung zusammen. Nur wenige können in diesem Gewühl etwas von der schwarzdrapierten Kutsche mit dem riesigen Sarkophag sehen. Ständig drängen sich Leute durch die Menge, um den Sarg zu küssen, oder sich gar auf ihn zu werfen und ein paar Augenblicke mit der Leiche mitzufahren. Immer wieder muss die Gendarmerie eingreifen.
    Auf dem Platz der Revolution ist seit Stunden kein Durchkommen mehr, an den Ufern der Seine ziehen weitere Prozessionen dahin, ganze Heere voll roter Jakobinerzipfelmützen. Überall, wo das Gerücht umgeht, Jean-Jacques sei nur wenige Schritte entfernt, setzt Jubel ein. Jeder fuchtelt mit einem Wimpel oder einem Zweig in der Luft herum, den er von einem jener frischgepflanzten Freiheitsbäume abgerissen hat, die inzwischen so zerstört aussehen, dass sie dieses Jahr wohl kaum überleben.
    Die Nacht verbringt Jean-Jacques in den Tuilerien, wo zu keiner Stunde eine heilige Stille aufkommen will, sosehr die Redner und Revolutionsführer auch immer wieder darum bitten. Schon seit Tagen stehen hier überall Buden mit Würstchen und Waffeln. Bier und Wein fließen in Strömen. An allen Ecken warten Wahrsagerinnen, Tierbändiger und Gaukler. Diebe machen wie noch nie ihre besten Geschäfte.
    Am Pantheon ist ein Kupferstich mit der Inschrift angebracht: Die Auferstehung des Jean-Jacques. Wie Christus entsteigt er mit seiner Armeniermütze dem Grab. In der Comédie Française wird eine Bearbeitung von Molières Menschenfeind aufgeführt, die Jean-Jacques’

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