Wintzenried: Roman (German Edition)
abends endlich zurück ins Hotel kam, bettelte er sie an, wieder nach Hause zu kommen. Mit dem letzten Schiff fuhr er unverrichteter Dinge nach Vevey zurück. Im Grunde konnte er sich nur noch umbringen. Doch dann beschloss er, nach England auszuwandern, in ein Land, das man vom Schweizer Ufer aus nicht sehen kann.
Wenn der Gärtner solche Geschichten erzählte, obwohl ihm kaum je einmal ein Wort über die Lippen kam, hatte das etwas ganz Bestimmtes zu bedeuten. Davon ist Jean-Jacques überzeugt.
Beim Blick zum gestirnten Himmel hinauf rätselt er, ob sich dahinter nur ein endloser Schlund öffnet oder sich jenseits dieser Weiten ein gütiger Vater verbirgt. Daneben bastelt Jean-Jacques in dieser Nacht auch an seinem zukünftigen Namen herum und beschließt, aus Rousseau einen Vaussore zu machen.
Im Morgenlicht erreicht er Lausanne, erkundigt sich nach einer Herberge, mietet sich ohne einen Sou in der Tasche unter seinem neuen Namen Vaussore de Villeneuve ein, stellt sich dem Wirt als Komponist vor und erkundigt sich nach dem städtischen Musikleben. Der Wirt denkt eine Weile nach. Schließlich fällt ihm ein, dass es hier einen Professor der Rechte gibt, der ihm weiterhelfen kann.
Noch bevor es Abend ist, darf Jean-Jacques bei ihm vorsprechen. Viel Zeit hat der Professor nicht, doch was Vaussore de Villeneuve ihm von seinen vielen Aktivitäten zwischen Annecy und Lyon erzählt, genügt, um dem jungen Mann einen kleinen Kompositionsauftrag für das nächste Konzert zu erteilen. Zwei Wochen hat er Zeit, dann ist es so weit. Nichts Großes, nur ein Menuett, aber immerhin. Dann sieht man weiter. Von Bezahlung ist keine Rede, doch das wird sich, so hofft Jean-Jacques, spätestens nach der Aufführung ändern.
Immerhin hat er für den Hausgebrauch bei Mama daheim schon das eine oder andere Couplet erfunden. Nur hat er es nie auf Papier festgehalten. Zwar kann er, wenn es nicht zu viele auf einmal sind, inzwischen durchaus Noten lesen, doch geschrieben hat er noch nie welche. Was sich aber leicht ändern lässt. Man braucht nur einen Anlass, sagt sich Jean-Jacques. Rameaus Harmonielehre kennt er in- und auswendig, zumindest theoretisch. Beim Melodienerfinden hat er sich immer auf seine Fantasie verlassen. An ein Stück ohne Gesang hat er allerdings noch nie gedacht. Vor allem nicht an eines mit so vielen Instrumenten. Bei Mama in der Küche daheim gibt es nur ein Spinett, manchmal hat auch einer eine Sackpfeife, eine Geige oder Gambe mitgebracht. Noten hatte nie einer dabei.
Genau genommen hat er immer noch ein bisschen Mühe mit dem Notenlesen, ganz zu schweigen davon, dass er sich nicht im Geringsten vorstellen kann, etwas für vier oder fünf oder sogar zwanzig Instrumente gleichzeitig zu schreiben. Für Violinen, Bratschen, Bässe, Flöten, Oboen, Fagotte, Hörner und Trompeten, nicht zu vergessen das Cembalo. Eine einfache Melodie fällt ihm jederzeit ein, doch wie man ein solches Durcheinander so hinkriegt, dass es auch noch harmonisch klingt, weiß er beim besten Willen nicht. Quarten und Quinten, Dur und Moll, Harmonie und Melodie, das alles ist ihm, rein rechnerisch, irgendwie klar, aber praktisch sieht es ganz anders aus.
Was nützt einem, fragt er sich auf dem Weg in seine Herberge zurück, dieses ganze Wissen um Akkorde und Intervalle, wenn man bloß vierzehn Tage Zeit hat? Andererseits soll es sich nur um ein Menuett handeln. Ein Menuett braucht keine tausend Stimmen. Im Grunde können dabei fast alle das Gleiche spielen. Eine Melodie und ein Bass, der alles unterlegt, das genügt. Die Geigen kriegen die Melodie, und zwar alle zusammen, egal wie groß oder klein sie sind. Ausgenommen der Kontrabass, der das Fundament liefern muss. Ein Fundament, das so schlicht wie solide ist. Und dann noch ein paar Stimmen dazwischen.
Zwei Wochen sind eine knappe Zeit für einen, der kaum Noten lesen kann und den Umfang der Instrumente nicht kennt, nicht ihre tiefsten Tiefen, nicht ihre höchsten Höhen und auch nicht die seltsamen Schlüssel, die für ein paar von ihnen gelten. Noten, denkt er, sind im Grunde viel zu kompliziert für so etwas Schönes wie Musik. Man müsste das Ganze viel einfacher machen. Was ihm in diesem Augenblick allerdings rein gar nichts nützt, da in zwei Wochen das Menuett fertig sein muss und er bis dahin kein neues Notensystem mehr erfinden kann.
In seiner Herberge lässt er alle Mahlzeiten anschreiben, was der Wirt auch anstandslos macht. Von Lausanne sieht er so gut wie nichts. Tag und
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