Wir Ausgebrannten
einigen Ausnahmen abgesehen. Und heute? Kommt keine Online-Zeitung, kein Männer- respektive Frauenmagazin mehr ohne Handreichungen zur qualitativen und quantitativen Verbesserung des Liebeslebens aus. Laut einer Umfrage der Uniklinik Hamburg haben Männer nur noch vier- bis zehnmal im Monat Sex. Das ist offenbar saugefährlich.
Es ist schon eigentümlich, dass wir nach 1968, nach der Kommune 2, nach Oswalt Kolle und Erika Berger heute ein derart unnatürliches Verhältnis zur Sexualität haben. Heute scheinen wir Sex nicht mehr als hedonistisches Vergnügen zu sehen, sondern als eine Art Waffe, die wir im Kampf gegen die eigenen Regungen einsetzen, damit sie uns nicht weiter belästigen und am Erstellen der Firmenphilosophie hindern. Eine der wichtigsten Philosophien im Zeitalter der Ausgebrannten ist die wasserdichte Organisation unseres Lebens. Bei der Arbeit sind wir es gewöhnt, alles zu »schedulen«, was sich irgendwie greifen und in eine Terminschablone pressen lässt, das geht von der Vertragsunterzeichnung bis hin zur Mittagspause, wir verweisen auf unsere Terminkalender wie der Priester aufs Tabernakel. Warum sollte, was für den Arbeitsverlauf gilt, nicht auch für das Liebesleben sinnvoll, wenn nicht unabdingbar sein? Ehe wir ausbrennen, weil wir es ums Verrecken nicht hinkriegen, uns eine liebe Freundin zu suchen, geben wir unser Liebesleben besser in professionelle Hände. Was die von uns brauchen, sind vor allem Daten, die dann mit den Daten anderer sehnsuchtsvoller Vollzeit-Arbeiter vermischt werden, bis am Ende eine Paarung herauskommt, die dann entweder zwei, drei Nächte vor sich hat oder, wenn es arg kommt, ein ganzes Leben. Bei den Seitensprung-Agenturen können wir in diagnostischer Offenheit unsere erotischen Vorlieben angeben, eine Liste mit allen bekannten sexuellen Praktiken hilft uns und den Organisatoren, über den Umweg durchs Virtuelle am Ende ganz bodenständig vorstellig zu werden.
Sie nehmen uns alles ab, sogar die Organisation von Spielarten der Liebe, die schon in den Zeiten der normalen Arbeits- und Lebensorganisation als eher schwierig zu bewerkstelligen galten. Wir reden von den Herausforderungen der Polyamorie, der Neigung also, Liebesbeziehungen zu mehr als einem Partner zu unterhalten. Wie man all dies organisiert, sich selbst dabei gut fühlt und den anderen nicht kränkt, das stellen speziell geschulte Polyamorie-Agenten mit ihrem Angebot sicher. Wir benutzen also für unser Liebesleben die gleichen Organisationstechniken wie für die Bewältigung unseres Arbeitsalltags. Unser Leben wird von Providern und Consultern am Laufen gehalten, unser Liebesleben von Agenturen und Psychologen mit dem gewohnten Alarmismus bewertet. Wer ein paar Wochen keinen Sex mit seinem Lebensgefährten unterhält, kann sich beim Therapeuten gerne das Zertifikat Sex-Burnout verpassen lassen. Damit ist auch die einstmals als relativ normale Regung, eben keine besondere Regung zu verspüren, in den Stand des Pathologischen gehoben.
DAS ZEITALTER DES NARZISS
Die griechische Mythologie bietet hin und wieder schöne Anreize zu metaphorischem Denken. Eine jener Legenden, die uns, wäre sie noch gegenwärtig genug, manche Therapieform erspart hätte, ist die von Narziss, dem Sohn des Flussgottes Kephissos, der die kleine Nymphe Leiriope vergewaltigt haben soll – eine Untat, aus welcher eben jener Narzissos hervorging. Man sieht schon, hier sind pränatale Dispositionen am Werk, der Junge musste einen Knall bekommen, und genau so geschah es auch. Narziss verliebte sich in sein eigenes Antlitz, das er in einem glatten See gespiegelt sah. Nun gibt es unterschiedliche Versionen, wie Narzissos an dieser Liebe zugrunde ging. Eine besagt, dass er über die Vergeblichkeit dieser Liebe dermaßen entsetzt war, dass er sich noch am Flussufer den Dolch in die Brust rammte. Was auch folgerichtig ist, denn mit seinem Spiegelbild kann man weder Geschlechtsverkehr unterhalten noch sonstigen partnerschaftlichen Vergnügungen nachgehen. Also adieu. Eine andere Lesart sieht vor, dass Narziss den Anblick seines Konterfeis im Spiegel des Gewässers sehr wohl genoss und sich durchaus eine Zukunft mit sich selbst hätte vorstellen können. Dann aber löste sich ein Blatt vom Baum, fiel in den See und erzeugte die bekannten Wellen, welche das glatte Antlitz des Göttersohns derart verzerrten, dass dieser davon ausging, plötzlich hässlich geworden zu sein. Auch diese Erkenntnis führte zum Messertod aus eigener
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