Wir Ausgebrannten
Vorgang, der ohnehin schwierig genug ist. Er brennt aus, weil er seine Lebensperspektive auf sich selbst verengt hat. Der sonderbare, leider weitgehend unbekannte Kabarettist und Poet Christof Stählin hat einmal ein Lied über einen Kapitän geschrieben, der mit dem Fernglas an der Reling steht und die Grenze zwischen Himmel und Wasser absucht, um Land zu sehen. Er justiert sein Fernglas mal hier und da, seine Suche nach Land bleibt vergeblich. Schließlich hält er das Fernglas gegen seinen Körper, sein Blick durchdringt die Bauchdecke, er findet ein paar Organe »und sieht und sieht kein Land«. So ist es mit uns Ausgebrannten. Wir tasten uns innen ab, kommen aber auch dort nur an die äußere Haut unserer Innereien. Und sehen und sehen kein Land.
Und weil wir immer noch vermuten, Trost im Internet zu finden, gehen wir zunächst auf Google und geben die Termini unserer Leiden ein. Wenn wir auch hier unbefriedigt verbleiben, geben wir das Wort »Befriedigung« ein – und schon sind wir wieder dort, wo wir eigentlich nicht sein sollten, jedenfalls nicht dauerhaft.
DER ELENDE STRESS MIT DER LUST
Manchmal sieht es so aus, als sei die Online-Verbindung zwischen unserem Geist und unserem Körper dauerhaft gestört, in schlimmen Fällen sogar gekappt. Vor allem das Feld der Erotik, das über viele Jahrhunderte von Erotomanen, Psychologen und katholischen Theologen umkämpft war, gerät mehr und mehr zu einem grob gepflügten Acker, auf dem weniger die Blumen des Bösen wachsen als das Unkraut der kommerzialisierten Sexsucht. Vor einem halben Jahr machte der amerikanische Kinofilm Shame Furore, welcher die Geschichte eines Großstadtmenschen erzählt, dessen Einsamkeit Ausmaße angenommen hat, die mit dem Wort »Verzweiflung« nur unangemessen beschrieben sind. Der Angestellte Brandon, gespielt von Michael Fassbender, ist zu einer herkömmlichen Beziehung mit einer Frau nicht oder nicht mehr fähig und daher gezwungen, sich über die Internet-Pornografie zu befriedigen oder mit hoher Schlagzahl Prostituierte aufzusuchen. Seine libidinöse Überfeuerung zwingt ihn, regelmäßig unter der Dusche zu masturbieren respektive zum gleichen Zweck alle Augenblicke eine Toilette aufzusuchen. Das große therapeutische Ausrufezeichen hinter diesem Film lautet Sexsucht, und damit wäre eine weitere beliebte Diagnose der Burnout-Kultur in Umlauf. In vergangenen Zeitaltern galten Männer, deren Bedürfnis nach Sex eine ungewöhnliche Steigerung erfahren hatte, eher als Kraftprotze und weniger als Patienten. Ein Mann wie Victor Hugo, der noch im hohen Alter die Grisetten von Paris konsultierte und dort offenbar eine immerhin beachtliche Figur machte, galt nicht als sonderbar, sondern als vital.
Aber wir wollen hier natürlich keine große Apologie der Potenzprotzerei betreiben, sondern den Blick kritisch und neugierig auf das lenken, was heute als Pornografie beschrieben wird und längst nur noch wenig mit der klandestinen Befriedigungswelt der Magazine, Bahnhofskinos und Wichskabinen zu tun hat. Die im Internet angebotene Pornografie hat inzwischen einen ähnlichen Stellenwert wie die sozialen Netzwerke, und wenn man es genau nimmt, ähnelt sie ihnen auch ein bisschen. Ausgestellt wird in Facebook genauso wie auf Youporn und in beiden Systemen werden menschliche Grundbedürfnisse geweckt und – wenn auch nur virtuell – befriedigt: der Wunsch nach Freundschaft und nach Sexualität. Dass wir unser Berufs- und Privatleben online führen und die ständige Erreichbarkeit und die Verfügbarkeit von Dienstleistungen als wichtigen Teil unseres Lebensstandards sehen, ist längst Teil unseres Selbstverständnisses und unserer Hybris. Zu diesen Verfügungsgütern gehört seit Längerem auch die Sexualität in Gestalt kommerzieller Pornografie, wie sie das Internet bereitstellt. Moralisch lässt sich die Nutzung von Sex-Videos selbstverständlich nicht mehr sanktionieren – die Kritik an der Pornografie ist nur noch dann ernst zu nehmen, wenn sie an Kindern vollzogen wird oder Vergewaltigungen und andere sexuelle Missbräuche mit ihr getrieben werden. Ansonsten ist das Bekenntnis zum Pornografischen inzwischen ein Teil des digitalen Triumphs: Die einstmalige Empörung der Feministinnen über barbusige Mädchen auf dem Stern -Cover oder die angeblich Gewalt verherrlichenden Fotografien von Helmut Newton sind staubiges Inventar der altmoralischen Asservatenkammer der untergegangenen Bundesrepublik der 70er- und 80er-Jahre. Pornografie wird
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