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Wir Ausgebrannten

Wir Ausgebrannten

Titel: Wir Ausgebrannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilmar Klute
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es ist eine Utopie, die sich aus den Versprechungen der Werbung und der Vulgärphilosophen zusammensetzt. Wir haben die großen Weltentwürfe leider nicht mehr so direkt zur Hand, wir sind mit den Geheimnissen der Ars Vivendi, der philosophisch grundierten Lebenskunst, unglücklicherweise nicht mehr so vertraut, dass wir aus ihr Nutzen und Nahrung für unsere täglichen Malaisen destillieren könnten. Stattdessen haben wir aber fantastische Zukunftsangebote, von denen wir unbedingt einen großen Teil mitnehmen, also beanspruchen wollen. Wir haben, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, die Chance, sehr alt zu werden, gerne auch 100 Jahre, der medizinische Fortschritt stellt uns dies in Aussicht. Wir haben die Möglichkeit, im Seniorenalter körperlich fit und geistig rege und sozial genauso vernetzt zu sein, wie es die jungen Leute sind. Wir können Sex haben, selbst wenn wir weit über 70 sind, weil es die entsprechenden Medikamente und die gesellschaftliche Legitimierung dafür gibt. Seitdem sind alle der Ansicht, es sei ein Kitzel vom Feinsten, wenn man auch nach den Wechseljahren respektive dem Erlöschen der natürlichen Potenz die Möglichkeit hat, das Feld der Erotik wie ein Jungbauer zu bestellen. Der Osnabrücker Sozialwissenschaftler Dieter Otten hat kürzlich die Studie 50 plus angestrengt, nach welcher rund 80 Prozent der Männer und gut 60 Prozent der Frauen zwischen 50 und 70 Jahren regelmäßigen und durchaus variantenreichen Sex praktizierten. Aber diese Zahlen prägen nur die eine Seite der Silbermedaille. Die Schwierigkeiten lauern in der Prostata und in vergleichbaren Regionen, und es ist die fiese Hexe Viagra, die in solchen Fällen immer wieder beschworen wird. Ach, es ist ein Elend des triebaffinen Alters, Lust und Wehe in eine tragfähige Balance zu bringen. Es sei denn – auch wenn es jetzt mit Pflastersteinen gefüllte Kondome hagelt: Man kann es doch auch einfach lassen, nicht wahr? Man kann doch auch sagen: Ich bin jetzt über 70, habe ein schönes Leben mit erotischen Höhen und Tiefen geführt und mache jetzt mal ganz was anderes. Ich lese neuerdings abends zum Beispiel Aristoteles und überlasse den Alterssex den Elenden, die sich mit Viagra trimmen und viel zu viele biologische Hindernisse überwinden müssen.
    Subjektiv betrachtet müssen wir uns gar nicht so sehr um ein anständiges, gesundes und bewusstes Leben bemühen. Alles, was wir nicht anständig, gesund und bewusst organisiert haben, korrigiert die Medizin später im Handumdrehen, jedenfalls stellen wir uns das so vor. Aber die Wahrheit ist eine andere: Das große Burnout in uns und um uns herum ist das Resultat erloschener Lebenskunst. Und es ist nicht weniger als eine kalte Geste der Selbstverachtung, der Versklavung, meist auf höchstem, auf allerhöchstem Miriam-Meckel-Niveau. Letzten Endes möchten wir als Brandopfer der Leistungsgesellschaft dastehen. Aber wir legen auch Wert darauf, dass wir selber die Protagonisten dieser Leistungsgesellschaft sind. Denn wer nichts leistet, kriegt auch kein Burnout. Burnout ist das Verdienstkreuz der Filofax-Republik, in der jede unternehmerische Klitsche ihre eigene Philosophie hat. »Unsere Firmenphilosophie« heißt es bei einer Werbeagentur: »Ideen. Lösungen. Service.« Wir geben den praktischen Lösungsansätzen den Vorzug vor den großen philosophischen Entwürfen. Unsere Geistesverfassung resultiert heute weniger aus der Kritik der reinen Vernunft als aus dem Imperativ: Simplify your life. Die Vereinfachungslitaneien des Managers und Theologen Werner Tiki Küstenmacher haben inzwischen den Rang von Katechismen eingenommen. Wenn wir unseren Schreibtisch jeden Tag aufräumen, wenn wir unsere Unterlagen geordnet halten und wenn wir immer schön auf Ordnung achten, dann haben wir auch weniger Mühen, mit den Unwägbarkeiten des Alltags zurande zu kommen.
    Aber die Dinge sind in Wahrheit nicht wie unsere praktischen Ablagefächer und Stauboxen. Das Leben ist leider eine sehr komplexe Angelegenheit und es lässt sich nicht leichter zubringen, indem wir unsere Techniken vereinfachen. Je einfacher wir uns das Leben machen, desto schwieriger wird es. Ein Mensch, der nicht mit den Anforderungen seines Büroalltags zurechtkommt, brennt nicht deshalb aus, weil er keine gescheiten Ablagefächer oder Hängeordner hat. Er brennt aus, weil er keine gescheite Gegenwelt im Kopf hat, die ihm hilft, das Wichtige vom Banalen, das Richtige vom Falschen zu trennen – ein

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