Wir erklären den Frieden! (German Edition)
Schlechten, sondern mit anderen, für andere. Wenn uns die Sorge um das Wohlergehen aller verbindet, können wir gemeinsam vielleicht mehr bewirken.
D. L.: Mitgefühl geht tatsächlich mit Verantwortungsbewusstsein einher. Mit der Einsicht, dass jeder von uns für die Umwelt, für das Los künftiger Generationen sorgen muss, wird gleichzeitig der Gemeinschaftssinn geweckt, und so schreitet man zur Tat. Durch Einsicht gelangt man zu Verantwortungsbewusstsein. Es rührt nicht aus dem Glauben, sondern aus einem Erkenntnisprozess. Das heutige Bildungssystem ist nach meinem Dafürhalten ausschließlich auf materielle Werte ausgerichtet. Unsere Geisteskraft wird kaum ausgebildet. Sobald wir auf geistige Werte zu sprechen kommen, hält man uns vor, ein rein religiöses Thema zu verfechten. Dabei ist doch unstrittig, dass der Geist den Alltag eines jeden bestimmt, genau wie jede Unternehmung. Dennoch wissen wir nur sehr wenig darüber, was den Geist ausmacht. Wenn Sie einen fremden Kontinent bereisen wollen, greifen Sie ganz selbstverständlich zur Landkarte, um sich zu orientieren. Und so brauchen wir auch eine Karte des Geistes, wenn wir von Mitgefühl reden, von gegenseitigem Verständnis – beides gehört der geistigen Sphäre an. Dank dieser Karte könnten wir nachvollziehen, wie eine Gefühlsregung zur nächsten führt, wie eine Gemütsbewegung die folgende auslöst, und immer so fort. Die Karte würde unsere unerhörte geistige Aktivität veranschaulichen. Mit Religion hat das gar nichts zu tun. Wir nehmen uns lediglich des Körpers an, des Geistes, der Teil unseres Gehirns ist. Das Gehirn ist ein hochkomplexes Gebilde. Der Geist, das Bewusstsein und die Gefühle – die alle im Gehirn existieren – sind nicht minder komplex. Diese Fragen werden in unseren modernen Schulen und Hochschulen jedoch nicht behandelt.
S. H.: Das stimmt, dort erfahren wir kaum etwas über die Vielschichtigkeit des Geistes. Ich nehme an, dass die buddhistische Erziehung Sie befähigt, solche Karten zu entwickeln, um Gefühlsregungen und Impulse zu verzeichnen, genau wie die Methoden, diese nicht eskalieren zu lassen. Vergleichbares findet weder in der christlichen Erziehung noch in unserem modernen säkularen Bildungssystem statt. Wir beugen möglicher Gewalt nicht vor. Kaum haben wir einen Entschluss gefasst, von dessen Richtigkeit wir überzeugt sind, preschen wir los, ohne die Auswirkungen auf Dritte zu bedenken. Ihre Botschaft ist von zentraler Bedeutung – vielleicht stimmt sie sogar mit einer modernen Weltsicht überein, die den Frauen eine immer wichtigere Rolle zugesteht.
D. L.: Den Frauen kommt in der Tat eine besondere Rolle zu, wenn es darum geht, Mitmenschlichkeit und Gewaltlosigkeit auf breiter Basis zu fördern. Wie Sie eben ganz richtig bemerkt haben, sind diese Eigenschaften in der modernen Gesellschaft bis heute stark unterentwickelt. Man legt mehr Wert auf eine hervorragende akademische Ausbildung und auf die Schulung des Intellekts als auf die Entfaltung emotionaler Qualitäten wie Anteilnahme und Toleranz.
Selbstverbrennungen in Tibet
D IE H ERAUSGEBER : Wenn wir schon beim Thema sind – was halten Sie von der Verzweiflungstat, die Palden Choetso begangen hat, jene 35 Jahre alte Nonne aus dem Kloster Ganden Jangchup Choeling in der Provinz Sichuan, die sich am 3. November 2011 selbst verbrannt hat? Der Abt des bedeutenden Kirti-Klosters in Dharamsala bezeichnete die Tat als ultimative Form der Gewaltlosigkeit. 3
D. L.: Das ist eine äußerst heikle Frage. Umso mehr, als die chinesische Regierung, die unmittelbar betroffen ist, auf jede meiner Aussagen zu diesem Thema lauert. Dort wartet man nur darauf, mir das Wort im Mund umzudrehen und mich zu bezichtigen. Vom buddhistischen Standpunkt aus muss man zunächst ergründen, warum diese Mönche und Nonnen keinen anderen Ausweg gesehen haben. Und da würde ich antworten, dass ihre Beweggründe jeden privaten oder familiären Rahmen sprengen. Sie opfern ihr Leben nicht aus persönlichen Gründen, sondern aus tief empfundener Großmut, sie wollen Tibet, den Buddhismus, ihre politischen und kulturellen Rechte verteidigen. Das sind lautere Motive, könnte man sagen. Doch wenn ich das tue, werden die Chinesen sofort entgegnen, dass der Dalai Lama die Selbstverbrennungen unterstützt, dass er sogar noch mehr Menschen dazu aufruft! Ich kann es also nicht sagen. Stellen Sie sich aber die Trauer der Angehörigen und Freunde dieser Unglücklichen vor, wenn ich das
Weitere Kostenlose Bücher