Wir erklären den Frieden! (German Edition)
nicht töte, bin ich überdies mitschuldig am Tod von 499 Menschen.« Also hat der Buddha seine Waffe gezogen und den Mann getötet.
Wir müssen von Fall zu Fall entscheiden
S. H.: Vorsicht! Mit der Begründung, ein Verbrechen zu begehen, gewissermaßen als Opfer, um Hunderte andere Verbrechen zu verhindern, reden sich alle modernen Tyrannen heraus. Demnach setzen sie die Folter nur ein, um versteckte Waffen aufzuspüren und Tausende Menschen vor tödlichen Anschlägen zu bewahren. Ich halte es für gefährlich, Gewalt in Ausnahmefällen zu rechtfertigen und diejenigen, die sie ausüben, zwangsläufig von Schuld freizusprechen. Zu diesem Mittel greifen wir, im Namen der Menschenrechte, wenn wir gegen Diktaturen vorgehen, weil wir ansonsten gegen sie machtlos sind, dabei hätten wir erst gar nicht zulassen dürfen, dass sie entstehen. Wir haben diese Diktaturen geduldet, um unsere eigenen Interessen durchzusetzen, und dafür das Leiden der Bevölkerung in Kauf genommen. Allgemein gesagt, ist Gewalt gegen andere kaum zu rechtfertigen. Wer sich selbst Gewalt antut, kann durch Schockwirkung zuweilen große Veränderungen anstoßen, wie in Tunesien nach der Selbstverbrennung des jungen fliegenden Händlers Mohamed Bouazizi 7 . Wir können nie wissen, was die Hauptursache einer solchen Veränderung sein wird. Der Prozess mag schon stufenweise eingesetzt haben, aber dann wird plötzlich ein Ereignis oder eine Persönlichkeit wie Gorbatschow 8 oder Nelson Mandela 9 zum Schlüsselelement, das den Wandel beschleunigt – weil diese Menschen Visionäre sind, aber auch, weil die Umstände sich verändert haben. Ich bin sicher, dass China sich eines Tages verändern wird, nach und nach oder infolge eines Schocks, den einige Einzelkämpfer auslösen, indem sie etwas Unerwartetes, Drastisches tun, wie beispielsweise sich selbst zu opfern.
D. L.: Ich teile Ihre Ansicht, darum habe ich ja auch von Theorie gesprochen. Die Praxis ist sehr kompliziert und oft unvorhersehbar. Die Tyrannei wird zumeist von Diktaturen ohne demokratische Strukturen ausgeübt. Über diese komplexen Situationen müssen wir von Fall zu Fall entscheiden, wir können nicht verallgemeinern. Viele heutige Probleme sind durch frühere Versäumnisse entstanden. Und so möchte ich auf einen weiteren großen Unterschied zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit hinweisen: Bei gewaltsamen Einsätzen sind die Folgen unberechenbar. Man muss immer mit dem Schlimmsten rechnen. Die Auswirkungen lassen sich weder im Vorfeld einschätzen noch später beherrschen, wie man unlängst wieder in Irak und Libyen gesehen hat, um zwei furchtbare Beispiele zu nennen. Bei Gewaltlosigkeit braucht man zuweilen einen langen Atem, aber sie birgt vergleichsweise kaum Risiken, die außerdem leicht zu kontrollieren sind.
S. H.: Ich glaube, dass man genau unterscheiden muss zwischen Gewaltlosigkeit einerseits und Entschlossenheit, Mut und Zuversicht andererseits. Wir können voller Selbstvertrauen sein, wir können beherzt handeln und dennoch auf Gewalt verzichten. Wie halten es die Empörten, die sich heute weltweit in Scharen erheben? Ihre Losung lautet: Wir wollen unsere Werte nicht preisgeben. Wir sind entschlossen, aber wir bleiben friedlich. Mandela, Václav Havel 10 , Martin Luther King 11 und sogar Gandhi – denn wir dürfen nicht vergessen, dass Gandhi sich bestimmten Aussagen zum Trotz stets gegen Terror verwahrt hat – haben alle das Gleiche gefordert: Seid entschlossen, mutig, kühn, setzt, falls nötig, euer eigenes Leben aufs Spiel, aber tötet niemals einen anderen Menschen! Das ist möglich, manchmal unmöglich. Ich weiß es selbst nicht. Was sagen Sie dazu?
D. L.: Als ich 1959 aus dem von China besetzten Tibet ins indische Exil geflohen bin, haben mir viele Anhänger Gandhis empfohlen, den Kampf innerhalb Tibets so zu führen, wie er das in Indien getan hatte. Ich wies sie darauf hin, dass der englische Imperialismus, so verwerflich er auch war, auf einer demokratisch geprägten Regierungsform beruhte: Es gab eine vergleichsweise unabhängige Justiz, Meinungs- und Pressefreiheit. Gandhi konnte sich vom Gefängnis aus Gehör verschaffen, er konnte Zeitungsartikel verfassen. Der moderne Imperialismus, wie im Fall des kommunistischen China, kennt keine Demokratie, keine Rechtsstaatlichkeit. Das ist ausschlaggebend. Dennoch beharre ich darauf, dass wir weiterhin auf gewaltlose Weise für die Anerkennung unserer Rechte kämpfen müssen, auch wenn manche jungen Tibeter uns zu
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