Wir erklären den Frieden! (German Edition)
passiv finden. Seit 1959 sind über fünfzig Jahre vergangen, aber nichts ist passiert – so lautet ihr Tenor. Und ich antworte ihnen: Seht doch, immer mehr Chinesen erklären sich mit uns solidarisch. Die Unterstützung durch das chinesische Volk ist ein bedeutender Sieg. Hätten wir Gewalt eingesetzt, wäre sie uns versagt geblieben. Überdies wird das chinesische Volk ewig auf chinesischem Boden sein, während die Diktatoren, so lange sie auch regieren mögen, eines Tages verschwinden werden, und wenn es noch zehntausend Jahre dauert!
Wissenschaftlicher und
geistiger Fortschritt
D IE H ERAUSGEBER : Albert Camus, französischer Literaturnobelpreisträger von 1957, schrieb einmal, er habe sich mit der Theorie der Gewaltlosigkeit auseinandergesetzt und neige zu dem Schluss, dass man auf diesem vielversprechenden Weg als Vorbild voranschreiten müsste. Dazu bedürfe es allerdings einer Größe, die ihm persönlich abgehe. 12
S. H.: Camus war sehr bescheiden, er hat eingeräumt, dass ihm zur Gewaltlosigkeit, so erstrebenswert er sie fand, die nötige geistige Stärke fehlte. Und man muss tatsächlich sehr stark sein, um gewaltfrei zu leben. Denn in einer Situation, die Gegenwehr verlangt, ist die Versuchung groß, Gewalt zu üben, und der Versuchung kann man nur standhalten, wenn man über Geistesgröße verfügt. Camus lebte in Algerien, zu einer Zeit, als Franzosen und Algerier sich befehdeten, weil die Algerier ihre Unabhängigkeit anstrebten. Er sagte selbst, er sei nicht stark genug, um Gandhi nachzueifern. Es liegt auf der Hand, dass man nicht nur Intelligenz braucht, sondern auch Mut und Großherzigkeit.
D. L.: Ein klares, starkes Bewusstsein.
D IE H ERAUSGEBER : Kann man Gewaltlosigkeit lehren?
D. L.: Das Ergebnis unserer Zusammenarbeit mit Neurowissenschaftlern beginnt Früchte zu tragen. Vor zwei Jahren haben im kanadischen Montreal mehrere Universitäten und Professoren ein gemeinsames Seminar angeboten, um auf laizistischem Weg Mitgefühl zu lehren. Sie haben mich eingeladen, und ich bin hingefahren. Ein solcher Ansatz zielt in eine ganz andere Richtung als das moderne Bildungssystem, in dem Ethik keinen Platz hat. Vor vielen Jahren habe ich auf einer Konferenz diese Frage einer säkularen Ethik aufgeworfen, und ich weiß noch genau, wie mir ein deutscher Pastor mit den Worten widersprach: »Ethik kann nur auf Religion gründen.« Ein Standpunkt, den ich auch von einem muslimischen Freund kenne. Er findet ebenfalls, dass es ohne Religion keine Ethik geben kann. Wenn dem so wäre, könnte man keine Ethik lehren, die sich sowohl an Gläubige wie auch Nichtgläubige richtet und damit allgemeingültig ist. Ich glaube allerdings, dass es auch ohne Religionszugehörigkeit möglich ist, menschliche Tugenden wie Mitgefühl, Toleranz und Unbestechlichkeit zu entwickeln, anhand von Werten, die nicht zwingend religiös bestimmt sind. Diese allgemeingültigen Werte bezeichne ich als säkulare Ethik. Den Ausdruck »säkular« gebrauche ich hier im Sinn der indischen Verfassung, er bedeutet keine Verachtung oder Missachtung der Religion. Ganz im Gegenteil, darin drückt sich die gleiche Achtung für alle Religionen und für die Nichtgläubigen aus. Inzwischen nehmen immer mehr Lehrer und Wissenschaftler an Versuchsprogrammen teil und haben bereits sehr positive Ergebnisse erzielt. Nächstes Jahr werden wir uns in Neu-Delhi an einer indischen Universität mit Lehrern zusammenschließen, die sich alle mit diesem Thema befassen, und ganz ernsthaft erforschen, wie man einen laizistischen Ethik-Unterricht in das moderne Bildungssystem einführen kann. Ich hege die berechtigte Hoffnung, dass wir in ein bis zwei Jahren konkrete Maßnahmen vorstellen können. Wir beginnen in Indien, weil dieser wohltuende säkulare Geist seit Jahrhunderten Teil der indischen Kultur und Tradition ist und er in die Verfassung aufgenommen wurde. Der Säkularismus ist im politischen System Indiens ein unantastbares Prinzip.
D IE H ERAUSGEBER : Es wäre also durchaus vorstellbar, diesen »geistigen Fortschritt«, der universellen Charakter hat, in das umfassende Programm der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einzubeziehen. Bisher verweist sie in Artikel 27 ausschließlich auf den »wissenschaftlichen Fortschritt«. Dabei ist es gerade diesem Fortschritt zu verdanken, dass wir heute von einer universellen – statt religiösen – Geistigkeit ausgehen können.
D. L.: Ich denke schon. Wie gesagt: Wir können den Geist auf
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