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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Damastserviette ab.
    «Ich danke Ihnen für das Essen», sagte ich mit geheuchelter Höflichkeit.
    Ich sah Krebs an, dass er es sich anders überlegte.
    «Es gibt noch Nachtisch», sagte er. «Bleiben Sie schon sitzen.»
     
    Auf der Veranda wehten die Jalousien aus dünnen Bambusstangen in einer leichten Brise vom Meer. Hier war es ebenso angenehm wie innerhalb des Hauses, obwohl die Sonne im Zenit stand. Die Eingeborenen waren noch immer eifrig damit beschäftigt, die Verwüstungen des Sturms zu beseitigen. Die Brandung rollte gegen den Strand. Weit draußen sah ich die weiß schäumende Barriere des Riffs, an dem ich am Tag zuvor beinahe mein Leben gelassen hätte.
    Krebs fragte nach den Umständen des Schiffbruchs. Ich erwähnte das Floß und Kapitän Hansen, der in der Kajüte verschwunden war, um die Schiffspapiere zu retten, aber nicht wieder auftauchte, als die Johanne Karoline ein letztes Mal überholte und eine Welle uns über Bord spülte. Er erkundigte sich nach den Kanaken, und als ich erzählte, dass sie mit mir zusammen das Land erreicht hätten, danach aber verschwanden und ich im Übrigen nichts über sie wüsste, zuckte er mit den Achseln, als wäre es ein nebensächliches Detail.
    Er blickte mich an und lächelte wieder dieses Lächeln, dessen Zweideutigkeit ich rasch durchschaut hatte.
    «Es ist phantastisch, was eine gute Mahlzeit doch bewirken kann. Sind Sie nicht auch der Ansicht?»
    Ich nickte.
    «Nehmen Sie nur mich», fuhr er fort. «Gerade ist doch meine Erinnerung zurückgekehrt. Madsen, ja, nun erinnere ich mich. Wenn Sie sich hinreichend ausgeruht fühlen, kann ich Ihnen einen Eingeborenen mitgeben, der Ihnen den Weg zeigt. Dann könnten Sie ihn bereits heute Nachmittag treffen.»
    «So kann ich allerdings nicht gehen», wandte ich ein.
    Ich hörte die Panik in meiner Stimme.
    «Natürlich nicht.» Krebs sprach mit einem Lächeln weiter. «Ich sehe,
Sie sind ein Mann, der auf Formen achtet. Welche Bekleidung würden Sie bevorzugen, wenn Sie diesen – Madsen – treffen?»
    «Meine eigene», erwiderte ich.
    Mir fiel das Künstliche meiner eigenen Stimme auf, und plötzlich hatte ich das Gefühl, als spielten wir uns eine Komödie vor. Aber um die Wahrheit zu sagen, ich sah nichts Komisches in dieser Komödie. Tatsächlich machte sie mir Angst. Ich hatte Angst, nach all den Jahren meinem papa tru gegenüberzustehen, und ich hatte Angst vor Heinrich Krebs, weil er etwas über meinen Vater zu wissen schien, das er nicht verraten wollte. Er hatte meinen Eifer, papa tru zu begegnen, gespürt – und meine Angst. Er spielte mit mir, allerdings wusste ich nicht, warum. Was wollte er von mir?
    Krebs entschuldigte sich und verließ die Veranda. Ich verbrachte den Rest des Tages damit, den Strand entlangzuwandern und meinen Blick über das Meer schweifen zu lassen, während ich über meine Situation und all das, was ich durchgemacht hatte, nachdachte. Hätte ich mich von papa tru fernhalten und die Toten in Frieden ruhen lassen sollen? Hätte ich nicht nach ihm gesucht, wäre er für tot erklärt worden, lediglich einer mehr in der Reihe ertrunkener Väter, Brüder und Onkel.
    Was wollte ich von ihm, wenn er so offensichtlich nichts von mir wollte?
    Er hätte doch einfach nach Marstal zurückkehren können, aber das hatte er nicht getan. Er hatte uns den Rücken gekehrt. Was sagst du zu einem Vater, der dir seit fünfzehn Jahren den Rücken kehrt? Du piekst ihn mit dem Finger in den Rücken. Und was machst du, wenn er sich umdreht?
    Knallst du ihm eine?
     
    Gegen Abend kehrte ich in das Haus von Heinrich Krebs zurück. Er hatte mich aufgefordert, bei ihm zu übernachten, und ich war seiner Einladung gefolgt, weil ich nicht am Strand schlafen mochte. Im Esszimmer hatte man für mich gedeckt, Krebs war allerdings nicht da.
    Als ich in das Zimmer trat, in dem ich die Nacht verbringen sollte, war mein erster Gedanke, dass es sich um das Zimmer handeln musste, das Krebs für sich und seine Frau eingerichtet hatte, deren Ankunft er so sehnsüchtig erwartete. Als würde man ein Zelt betreten oder sich unter dem Sonnensegel eines Schiffs befinden. Alles war in dem gleichen
luftigen Stil eingerichtet wie das Esszimmer. Das Himmelbett war groß genug für zwei oder drei, und ein großer Spiegel gab dem Raum eine besondere Dimension.
    Es war der seltsamste Ort, an dem ich je eine Nacht verbracht hatte, und ich zögerte, mich ins Bett zu legen. Der Boden schien mir ein passenderer Platz, allerdings hatte ich

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