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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Anzug zurechtgelegt hatte. Auf dem Boden stand ein Paar weiß gekreideter Segeltuchschuhe. Es musste Heinrich Krebs’ eigene Kleidung sein, die er mir lieh. Da ich aber erheblich größer war als er, fiel sowohl die Jacke als auch die Hose zu kurz aus. Das Hemd ließ sich über der Brust nicht zuknöpfen, die Schuhe musste ich stehen lassen. Ich
kam barfüßig zum Mittagstisch und sah noch immer aus wie ein Herumtreiber, doch nun wie einer, der das Glück auf seiner Seite hatte.
    Das Esszimmer lag im kühlen Schatten. Weiße, bodenlange Gardinen filterten das Licht von außen. Auf einer Damasttischdecke waren Porzellan, Silberbesteck und Kristallgläser arrangiert. Ich hatte schon an vielen Tischen gesessen, aber noch nie an einem, der sich mit dem von Heinrich Krebs messen ließ.
    Dann erschien er selbst. Er hatte den Hut abgenommen, sein sandfarbenes Haar stramm zurückgekämmt und mit Pomade in Form gebracht.
    Es standen lediglich zwei Gedecke auf dem Tisch.
    «Sie leben allein?», fragte ich.
    «Ich bin dabei, mich einzurichten. Meine Frau und meine drei Kinder werden später nachkommen.»
    Das Essen wurde aufgetragen.
    «Eine kleine Überraschung», sagte Heinrich Krebs.
    Ungläubig starrte ich auf die Platte, die vor mich hingestellt wurde – und schaute noch einmal. Dann sagte ich den Namen auf Dänisch, da ich die deutsche Bezeichnung für dieses wunderbare Gericht nicht kannte.
    «Schweinebraten.»
    «Ja, Schweinebraten», wiederholte mein Gastgeber in einer nahezu fehlerfreien Nachahmung meines Dänisch.
    «Ich bin in Dänemark gewesen, und mit Schweinefleisch haben Dänen und Deutsche ja ein gemeinsames Leibgericht. Auf die knusprige Speckschwarte, die ihr Dänen, soweit ich weiß, so schätzt, müssen wir allerdings verzichten. Dazu reicht das Talent meines ansonsten ausgezeichneten Kochs leider nicht.»
    Krebs setzte sich und beobachtete mich. Er breitete die Arme aus.
    «Man kann so vieles mit sich nehmen. Man kann ein Heim wiedererstehen lassen, sich mit den geliebten Gegenständen umgeben, der gleichen Kultur, man kann die altbekannten Autoren lesen, die Gerichte seiner Kindheit essen und seine eigene Sprache sprechen wie im Augenblick. Und doch ist es nicht dasselbe. Es gibt etwas, das man nicht nachmachen kann. Vielleicht ist es sogar dasselbe, was man irgendwann einmal hinter sich lassen wollte. Ja, warum reist man fort? Ich frage es
mich häufig selbst. Warum sind Sie hier? Sie haben Schiffbruch erlitten und allerlei Strapazen ausgestanden. Das steht Ihnen ins Gesicht geschrieben. Aber warum?»
    «Ich bin Seemann», antwortete ich.
    «Ja sicher. Aber warum sind Sie Seemann? Es war ja wohl kaum Gott, der auf Sie deutete und Ihnen befahl, zur See zu gehen? Sie werden es doch selbst so entschieden haben?»
    Ich schüttelte den Kopf.
    «Mein Vater war Seemann. Meine beiden Brüder sind Seeleute. Meine Schwester ist mit einem Seemann verheiratet. All meine Schulkameraden sind zur See gegangen.»
    «War Ihnen die Ostsee nicht groß genug? Den meisten reicht sie doch eigentlich. Wieso der Stille Ozean? Was glauben Sie hier zu finden?»
    Mit gefiel Krebs’ Neugierde nicht, wenn es denn Neugierde war. Vielleicht hörte er sich auch nur gern reden. Aber er bedrängte mich zu sehr, und ich hatte nicht vor, mich irgendjemandem anzuvertrauen. Ich schaute wieder auf meinen Teller und konzentrierte mich auf das Essen.
    «Es schmeckt wirklich sehr gut», sagte ich.
    «Ich werde das Kompliment an den Koch weitergeben.»
    Ich hörte an seinem Ton, dass er beleidigt war. Ich hatte seine Einladung zur Vertraulichkeit abgewiesen, nun gab es eine Kluft zwischen uns.
    «Dieser Madsen», sagte er nach einer Weile, «ist es Familie?»
    Ich bereute bereits, dass ich den Namen meines Vaters genannt hatte. Doch die Insel war groß, und ich wollte ihn ja finden.
    «Nein», sagte ich. «Keine Familie. Wir stammen nur aus derselben Stadt.»
    «Mit demselben Nachnamen?»
    «Es gibt in Marstal viele mit demselben Nachnamen. Ich habe seiner Familie versprochen, mich umzuhören, wie es ihm geht, wenn ich schon einmal hier bin.»
    «Wenn Sie nun schon einmal hier sind. Wenn Sie zufällig mal gerade an Samoa vorbeikommen.»
    Seine Stimme triefte vor Hohn. Er glaubte mir nicht, doch statt es direkt auszusprechen, äffte er mich nach.
    Mir war es egal. Ich hatte ein Bad und eine warme Mahlzeit erhalten.
Er konnte mich hinauswerfen, wenn es ihm gefiel. Ich würde schon ohne seine Hilfe zurechtkommen. Ich wischte mir den Mund mit der

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