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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Familie zu besuchen. Zurück kam er in Lumpen. Die Familie hatte sich seine Uniform angeeignet. Ich begegne ihnen hin und wieder, wenn sie damit herumstolzieren. Mal ist es ein Vetter, der seine Weste trägt, dann ein Bruder in seiner Jacke; ein Onkel hat sein Hemd, und der Vater läuft in seiner Hose herum, immer nur ein Kleidungsstück auf einmal und sonst nichts weiter. Tja, das ist ein Anblick, nicht wahr, Adolf?»
    Er stupste den Diener mit der Peitsche an. Adolf starrte vor sich hin, als hätte er nicht gehört, worüber gesprochen wurde, oder es nicht verstanden. Letzteres war wohl das Wahrscheinlichere.
    «Der Samoaner arbeitet nicht», erklärte Krebs, «er macht Besuche. Er ist keine Ameise. Er ist eine Heuschrecke.»
    «Eine Heuschrecke?»
    «Eine Heuschrecke. Verstehen Sie, wenn ein Samoaner plötzlich wohlhabend wird, ob es nun an seinem Fleiß liegt, was allerdings ziemlich selten ist, oder am Glück, dann kommt sofort seine gesamte Familie zu Besuch. Selbst die entfernteste Verwandtschaft der Sippe erscheint. Ich habe es erlebt. Es kommt vor, dass ein ganzes Dorf auf Wanderschaft ist. Und sie bleiben bei ihm, bis sie ihn vollständig ausgeplündert haben.
Wie ein Schwarm Heuschrecken. Auf Samoa ist das Wort für Besuch und Unglück identisch: malanga. Und Sie werden sich die Konsequenzen vorstellen können. Es ist ein System, das den Bettler belohnt und den Fleißigen bestraft. Hart zu arbeiten ist lediglich eine Aufforderung, ausgeplündert zu werden. Sparen ist unmöglich. Was also macht der kluge Mann? Er sorgt dafür, dass er nur das Allernotwendigste verdient, um sich selbst und seinen Nächsten die Mägen füllen zu können. Nicht mehr. Solch einen Mann kann ich nicht gebrauchen. Nein, importierte Arbeitskräfte, alleinstehende Männer ohne große Bedürfnisse und vor allem ohne große Familien.»
    Während Krebs redete, hatten wir die letzten Häuser hinter uns gelassen. Nun waren wir umgeben von den Hütten der Eingeborenen. Es gab keinen Weg mehr, und wir mussten ständig Zäunen aus Flechtwerk ausweichen, die kreuz und quer aufgestellt waren. Dahinter lagen schwarze behaarte Schweine und grunzten im Morast. Eine Schar Kinder umkreiste uns, und Adolf stieß einen warnenden Zischlaut aus, als wollte er einen Hund fortjagen. Die Horde wich kreischend zurück, doch bald schon tauchte sie wieder vor uns auf, und jedes Mal, wenn sie zurückkehrte, hatte sich die Zahl johlender Kinder erhöht. Vor den Öffnungen der Hütten standen Frauen und starrten uns an.
    «Ja, hier endet Europa», meinte Krebs. «Nun befinden wir uns unter den Wilden.»
     
    Ein Windstoß fuhr durch die hohen Kokospalmen, so dass es in ihren Kronen rauschte. In diesem Moment blickte ich hinauf. Die großen Palmblätter öffneten sich wie Seeanemonen unter Wasser. In einer der Kronen saß ein Mann. Ich sah ihn nur einen Augenblick. Es war ein Weißer mit nacktem Oberkörper und langem grauem Bart. Dann schlossen sich die Palmblätter wieder um ihn, als würde er in dem Baum wohnen und nun seine Tür vor neugierigen Blicken verschließen.
    Einen Augenblick zweifelte ich. Am liebsten hätte ich diesen merkwürdigen Anblick ignoriert, der eher in einen Traum als in die reale Welt zu gehören schien.
    Krebs hatte es auch gesehen. Er hielt sein Pferd an und wandte sich zu mir.
    «Wir sind da», sagte er. «Es ist an der Zeit, dass ich umkehre.»

    Er gab mir ein Zeichen, vom Pferd zu steigen.
    Ich nahm meine Schiffskiste. Er beugte sich vor, um mir die Hand zu geben.
    «Ich hoffe, Sie bereuen es nicht. Bei mir sind Sie jederzeit willkommen.»
    Er drückte mir die Hand und wendete das Pferd. Dann drehte er sich um und sah mich an. Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen.
    «Viel Glück mit Ihrem Vater.»
    Er gab dem Pferd die Sporen und ritt im Galopp davon.

    Mit der Schiffskiste unterm Arm stand ich da. Die Kinder gafften, doch da ich nicht auf ihr Geschrei reagierte, wurden sie nach und nach still. Sie scharten sich erwartungsvoll um mich. ihre Neugier war noch nicht befriedigt. Aus den umliegenden Hütten glotzten die Frauen, Männer waren nicht zu sehen.
    Ich schaute hinauf in die Palme, wo der Mann, der vielleicht mein papa tru war, sich einen Augenblick lang gezeigt hatte.
    Ich fühlte mich unwohl, schwitzte in meinen Landgangskleidern und den kniehohen Seestiefeln. Dann schrie ich hinauf in die Palme.
    «Laurids!», brüllte ich.
    Ich rief nicht papa tru. Ich brachte es nicht über mich. Ich fand, es war ohnehin

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