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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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schon alles seltsam genug. Ich wollte nicht auf einer fernen Südseeinsel stehen und in den Himmel nach meinem Vater rufen.
    Zunächst geschah nichts.
    «Ich habe dich gesehen!», rief ich. «Ich weiß, dass du da bist.»
    Ich wurde gereizt. Es war eine Form der Wut, die nicht wusste, was sie mit sich anfangen sollte.
    «Komm runter! Du bist doch kein Affe, verdammt noch mal!»
    Ich hörte meine eigene Stimme und erschrak. Ich redete mit ihm, als wäre ich der Kapitän der Flying Scud und er ein einfacher Kanake.
    Es raschelte in der Baumkrone. Dann tauchte ein Mensch zwischen den Palmblättern auf, grobknochig und bärtig, um den Leib hatte er eines dieser bunt gescheckten Kleidungsstücke der Eingeborenen geschlungen.
Wären da nicht seine hellere Gesichtsfarbe und der graue Bart gewesen, hätte ich ihn für einen der Kanaken gehalten.
    Er hielt mit seinen großen Händen den Stamm umfasst. Seine nackten Füße stemmten sich gegen die raue Oberfläche. Es war die Klettertechnik der Eingeborenen und sah beinahe so aus, als würde er den Stamm hinuntergehen. Mit einem Plumps landete er auf dem Boden und stand mir gegenüber.
    Er starrte auf meine Füße.
    Ich betrachtete sein Gesicht mit dem dichten Bart. Hatte ich einen Augenblick gezweifelt, so schwanden meine Zweifel nun gänzlich. Ich kann nicht sagen, dass ich ihn nach all diesen Jahren wiedererkannte, denn was ist die Erinnerung eines Vierjährigen wert? Aber ich erkannte mich in ihm wieder. Es geschieht nicht oft, dass ich die Gelegenheit hatte, mich in einem Spiegel zu sehen, und wenn mich jemand bäte, mein Aussehen zu beschreiben, würde es mir nicht nur an Worten fehlen, sondern auch am Interesse für die Frage. Nun stand ich meinem Spiegelbild gegenüber. Die Zeit hatte im Gesicht meines Vaters ihre Spuren hinterlassen. Die eingesunkenen Wangen durchzogen tiefe Furchen, und um die Augen breiteten sich Falten wie Vogelspuren in nassem Sand aus. Aber er war ich. Wir waren Vater und Sohn, und ich begriff, woher Heinrich Krebs seine Erkenntnis hernahm. Er hatte einfach nur hingesehen.
    Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte.
    Es war papa tru, der das Schweigen brach. Er riss seinen Blick von meinen Füßen los und starrte mich an.
    «Ich sehe, dass du mir meine Stiefel bringst.»
    «Es sind jetzt meine.»
    Ich biss die Zähne zusammen und gab meiner Stimme einen ebenso harten Klang. Er starrte mich noch immer an.
    Das Einzige, woran ich dachte, war, dass er verdammt noch mal nicht meine Stiefel bekommen sollte.
    Dann sagte er ein paar Worte in der Sprache der Eingeborenen, und drei Jungen, die mich umringten, erhoben sich.
    «Begrüß deine Brüder.»
    Unter dem Bart schürzte er seine Lippen zu einem vagen Lächeln. Er zeigte nacheinander auf sie.
    «Rasmus, Esben.»

    Er zögerte bei dem Kleinsten, von dem ich vermutete, dass er in demselben Alter war wie ich, als er uns verlassen hatte.
    «Albert», erklärte er dann.
    Was er mit den drei Jungen redete, weiß ich nicht. Keiner von ihnen schien nähere Bekanntschaft mit mir machen zu wollen, und er forderte sie auch nicht dazu auf. Sie hockten sich wieder zu den anderen Kindern und fingen sofort an zu kichern.
    Im ersten Moment begriff ich nicht, was er gerade gesagt hatte. Er lebte offenbar in einer neuen Familie. Er hatte nicht nur drei Söhne wie in der alten, sondern seine Kinder auch nach uns benannt. Ich hatte das Gefühl, als wäre alles ein Traum, ein dummer und boshafter Traum. Aber dann wurde mir klar, dass dieser Traum viel zu lange gedauert hatte, um ein Traum zu sein. Fünfzehn Jahre. So viele Jahre waren vergangen, seit papa tru uns verlassen hatte. Der Traum hatte mein Leben aufgesogen und Tag und Nacht vertauscht, so dass ich nicht länger wusste, wohin ich gehörte, ins Licht oder in die Dunkelheit.
    Ich kann nicht sagen, was meine Miene verriet. Ob sie verblüfft wirkte und staunend, ob sie sich verfinsterte oder unverändert blieb. Jedenfalls klang papa tru, als handelte es sich bei dem, was er gesagt hatte, um nichts Ungewöhnliches. Aus Stolz reagierte ich genauso. Aber ich spürte, wie der Zorn in mir wuchs, und mir war klar, dass er weiterwachsen würde, bis er sich in etwas anderes, Gefährlicheres verwandelte.
    Ich hätte auf dem Absatz kehrtmachen sollen. Dann hätte er hinter mir herrufen und schreien, mich auf Knien bitten können zu bleiben. Er hätte um Verzeihung bitten können für all die Jahre, die vergangen waren und in denen er nicht bei uns war. Aber ich wusste

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