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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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bereits, dass dies nicht passieren würde. Er hatte mich all die Jahre entbehren können, und das Einzige, woran er dachte, als er mich endlich wiedersah, waren seine Stiefel.
    Ich blieb, und ich weiß auch, warum. Ich wünschte mir, dass er mich einmal, nur ein einziges Mal, umarmte.
    «Nun, lass uns nach Hause gehen und in der Korsgade etwas essen», sagte er.
    War er verrückt geworden? Korsgade! Rasmus, Esben – und Albert! Wahrscheinlich gab es irgendwo auch eine Else. Ich glaubte, in einen Abgrund zu starren. Hier unter Palmen hatte mein Vater die Familie
wiedererschaffen, der er einst den Rücken kehrte. Möglicherweise hätte ich seinen Verrat ertragen, wenn er ein ganz neues Leben begonnen hätte. Aber so!
    Neben mir ging ein kleiner dunkelhäutiger Junge, der mich darstellen sollte. Und was war ich? Nur eine Probe, eine Skizze?
    Ich empfand keinerlei Zärtlichkeit für diese Jungen, die hinter papa tru herflitzten. Es waren meine Halbbrüder, aber sie bedeuteten mir nichts. Ich spürte nur eine ungeheure Bitterkeit. Nun verstand ich Heinrich Krebs’ Warnung, ja, sogar seinen Spott musste ich akzeptieren.
    Ich starrte auf den muskulösen Rücken über dem bunten Sarong. Mein Vater! Nein, er war nicht mein Vater. Er war der Vater dieser dunkelhäutigen kleinen Jungen. Zwischen ihm und mir gab es keine Blutsverwandtschaft mehr.
    Ich sah den roten Staub unter meinen Füßen, die Hühner, die frei herumliefen, das Flechtwerk der Einfriedungen mit den schwarzen Schweinen dahinter, die luftigen Hütten. Ich hörte das Rauschen der Palmkronen. Einst hatte darin eine Verlockung gelegen. Ich hatte von der Südsee geträumt. Nun war ich hier, wiedervereint mit meinem Vater, doch es war kein Traum, der in Erfüllung ging. Es war eine Hoffnung, die zerbarst. Ich hätte lieber sein Grab als ihn selbst gefunden.
    « Papa tru!», rief ich ihm von hinten zu.
    Er drehte sich nicht einmal um.
    « Papa tru!», imitierte ich ihn. «Du hast mir doch beigebracht, dich so zu nennen. Weißt du eigentlich, was es bedeutet? Papa tru – mein wahrer Vater. Aber was bist du für ein Vater? Ein großer Lügner bist du!»
    An dieser Stelle hätte ich umdrehen sollen.
    Doch ich ging mit ihm in seine Hütte.
     
    Er rief etwas, und ich verstand, dass er Essen für seinen Gast und sich selbst verlangte. Eine Frau tauchte in der Türöffnung auf. Ich sah sie nicht an. Ob sie mich erkannte, wusste ich nicht. Dann saßen wir dort und warteten. Die Kinder scharten sich um uns.
    Laurids starrte wieder auf meine Stiefel.
    «Gib sie mir!», sagte er.
    «Du bekommst sie nicht!»
    All meine Enttäuschung kam in diesen Worten zum Ausdruck.

    «Du bekommst sie nicht!», wiederholte ich.
    Er sah mich unschlüssig an, als hätte er diese Abfuhr nicht erwartet.
    Zum ersten Mal schaute ich ihm in die Augen. Ich sah darin eine seltsame Lethargie, und mir wurde klar, dass er verloren war. Er war nicht mehr länger mein Vater. Aber er war auch nicht mehr Laurids Madsen. Er hatte alles hinter sich gelassen, auch etwas von sich selbst. Ich begriff, dass all die Namen von zu Hause, mit denen er um sich warf, nichts anderes als verzweifelte Versuche darstellten, an etwas festzuhalten, was ihm bereits vor langer Zeit abhanden gekommen war.
    Mein Zorn wich dem Entsetzen. Ich wollte aufstehen und gehen. Ich sah mich nach meiner Kiste um, die ich auf den Boden gestellt hatte, aber ich konnte sie nirgends entdecken.
    «Die Stiefel», wiederholte Laurids.
    Er hatte zu seinem Kommandoton zurückgefunden. Doch ich hatte in seinen Augen etwas anderes gesehen und tat so, als hätte ich nichts gehört, während ich weiter nach meiner Schiffskiste suchte. Die kleinen Jungen hatten sie zu dem Flechtwerk geschafft, das den Schweineauslauf umzäunte, und waren dabei, sie zu öffnen. Sie lachten vor Aufregung. Der Älteste steckte seine Hand hinein und begann, in der Kiste herumzuwühlen.
    Dann erstarrte er, saß ganz still. Im selben Augenblick riss er die Augen auf, als hätte er eine Giftschlange erblickt, und stieß ein wildes Geheul aus. Seine Brüder stoben nach allen Seiten davon. Ein Wort, dessen Bedeutung ich nicht kannte, mir aber gut vorstellen konnte, gellte zwischen den Palmen hindurch und über das Dorf.
    Auch Laurids erstarrte, und die Lethargie in seinem Blick verwandelte sich in Entsetzen.
    Ich kann nicht erklären, warum, aber mir war sofort klar, was in seinem umnebelten Gehirn vorging. Der Junge hatte Jim entdeckt, und Laurids glaubte, ich sei ein

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