Wir Ertrunkenen
Søstre entsprachen, ganz bis nach oben zu gelangen. Und Jepsen, der weichherziger war, als ihm guttat, entdeckte plötzlich, dass Herman ganz allein auf der Welt war, ohne Mutter, ohne Vater und ohne Brüder. All die Liebe, die er Erna nicht mehr entgegenbringen konnte, schenkte er nun Herman, der, wie er meinte, dringend die liebevolle und lenkende Hand eines Vaters brauchte.
Herman war gegenteiliger Ansicht. Er wollte nichts lieber, als sich seines Stiefvaters entledigen.
Das tat er auch, noch ehe dies irgendjemand erwartete.
Es war die Art, wie es geschah, die unsere Bewunderung, bei den meisten von uns allerdings auch ein seltsames, unbestimmtes Gefühl von Furcht hervorrief.
Als Herman Frandsen konfirmiert wurde, sollte er zur See fahren. Holger Jepsen, der das Beste für den Jungen wollte, beging den Fehler, ihn auf der Tvende Søstre anmustern zu lassen, statt ihn auf ein fremdes Schiff zu schicken. An Bord ging es ziemlich rau zu, obwohl es nie zu einer Prügelei kam. Jepsen hatte auf einem Schiffsdeck mehr Autorität als an Land. Obwohl er von kleinem Wuchs war, besaß er ein gewaltiges Organ, und das setzte er ein, wenn er Herman die Webeleinen auf- und abentern ließ und auf die Fußpferde der Rahen kommandierte.
«Trau niemals deinen Füßen», schrie er, wenn der für sein Alter groß gewachsene Herman dort oben hing und wie ein seekranker Gorilla schaukelte.
Die Füße können abrutschen, das Tauwerk reißen, und dann geht es zwanzig Meter abwärts, bevor das Deck oder das Meer dir eine Lektion
erteilt, aus der du nichts mehr lernen kannst. Das Meer spuckt dich nicht wieder aus, und das, was von dir übrig ist, wenn du auf Deck aufschlägst, kann man mit einer Schaufel aufkratzen.
Herman sah auf seine Füße. Wenn er ihnen nicht trauen durfte, wem, zum Teufel, sollte er dann trauen? Regungslos verharrte er dort oben, als wäre er ein mechanischer Apparat, den man vergessen hatte aufzuziehen. Es war nicht Schrecken oder Panik, sondern Misstrauen. Er verstand nicht, was Jepsen meinte.
Jepsen musste die Takelage aufentern, um ihn herunterzuholen. Er kletterte auf die Rahe und streckte die Hand aus.
«Komm», sagte er mit sanfter Stimme.
Herman blickte ihn scheel an und packte die Handpferde nur umso fester.
«Du brauchst keine Angst zu haben», sagte Jepsen und legte eine Hand auf Hermans Arm.
Aber Herman hatte keine Angst. Er war einfach starr vor Abneigung.
Jepsen musste ihm einen Finger nach dem anderen aufbiegen. Es war eine Kraftprobe, doch Jepsen hatte viel Kraft in den Fingern.
«So, jetzt gehen wir. Langsam. Einen Schritt nach dem anderen. Eine Hand nach der anderen.»
Er sprach mit Herman wie mit einem Kind, das gehen lernen soll. Herman blickte hinunter aufs Deck. Der Matrose und der Steuermann standen dort und glotzten hinauf. Sie glaubten auch, er hätte Angst.
«Ich schaff es allein. Lass mich», fauchte er.
Jepsen zog sich zurück.
«Denk dran», sagte er. «Halt dich gut mit den Händen fest. Und wenn du die Hände nicht mehr benutzen kannst, dann benutz die Zähne. Und wenn die Zähne versagen, dann setz die Wimpern ein.»
Er lachte Herman aufmunternd zu und zwinkerte mit einem Auge. Herman blickte böse zurück.
Es verging ein Jahr, und wir fragten uns schon, ob es nicht für Herman an der Zeit wäre abzumustern. Zwischen ihm und Jepsen hatte es viel böses Blut gegeben.
Es war ein Tag im Frühjahr, direkt nach Hermans fünfzehntem Geburtstag. Holger Jepsen verließ zusammen mit seinem Stiefsohn den Hafen.
Nur sie beide waren an Bord der Tvende Søstre. Sie wollten einen Steuermann und zwei Matrosen abholen, die in Rudkøbing anmustern sollten, bevor das Schiff Kurs Richtung Spanien nahm. Wir fanden es tollkühn, dass Jepsen nur mit einem Schiffsjungen an Bord segelte, auch wenn es bis Rudkøbing nicht sonderlich weit war. Möglicherweise hatte Jepsen den Törn als eine Art Männlichkeitsprobe für den fünfzehnjährigen Jungen angesehen. Vielleicht hatte er aber auch das Gutherzige abgelegt und wollte Herman ein für alle Mal zeigen, wer an Bord zu befehlen hatte.
Eine Männlichkeitsprobe wurde es jedenfalls.
Aber nicht so, wie Jepsen es sich gedacht hatte.
Wir hatten damit gerechnet, die Tvende Søstre frühestens in sieben, acht Monaten wiederzusehen, wenn das Schiff von seiner Reise nach Spanien und Neufundland zurückkehrte, um im Hafen zu überwintern. Jepsen und Herman waren früh am Morgen ausgelaufen. Am späten Nachmittag desselben Tages jedoch
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