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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Schiffsjunge kannst du auch mitkommen.»
    «Das ist mein Schiff!», brüllte Herman.
    Hans Jepsen war viele Jahre als Steuermann gefahren, und aufgeregte Schiffsjungen konnten ihm nicht imponieren, egal, wie groß sie waren und wie laut sie brüllten.
    «Mir ist es scheißegal, wem das Schiff gehört», knurrte er auf eine leise, verbissene Art, die sich als weitaus einschüchternder erwies, als irgendein Gebrüll es getan hätte. «Du wirst Matrose, wenn du alt genug bist, du verdammter Rotzbengel.»
    Hans Jepsen streckte sein unrasiertes Kinn vor. Er war als junger Mann auf einem amerikanischen Schiff gefahren und hatte viele amerikanische Flüche gelernt. Wollte er jemandem drohen, verwendete er bisweilen
Ausdrücke wie «Du bist totes Fleisch, Kamerad» oder «Du bist Geschichte». Wir wussten nie so richtig, was er damit meinte. Aber er knirschte mit den Zähnen, und seine Kiefer fingen heftig an zu mahlen, wenn er in seine ausländischen Verwünschungen verfiel. «Dead meat» – und dann war ein unangenehmes Malmen aus seinem Mund zu hören, als ob er gerade eine faserige Menge toten Fleisches zerkleinerte.
    Nun starrte er Herman an, und in seinem Mund war das Geräusch mahlender Zähne zu hören.
    «Ich weiß nicht, was du mit meinem Bruder angestellt hast, aber wenn du mich auch nur ein einziges Mal schief anguckst, dann kannst du zum Abschied deinen fetten Arsch küssen.»
    Herman hatte seinen Stolz. Wenn er auf dem Schiff, das er bereits als sein eigenes ansah, nicht als Matrose mitfahren konnte, wollte er überhaupt nicht mit. Er machte im Hafen die Runde. Aber niemand von uns wollte ihn anheuern, weder als Matrosen noch als irgendetwas anderes. Er ging nach Kopenhagen und fand dort eine Heuer.
    Einige Jahre hörten wir nichts von ihm. Dann kehrte er zurück, und alles wurde anders.

    Es gibt viele Arten, die Geschichte eines Menschen zu erzählen. Als Albert Madsen mit seinen Aufzeichnungen begann, enthielten sie zu Beginn nicht viel Persönliches. Stattdessen handelten sie von unserer Stadt und ihrer Entwicklung. Er schrieb über die Schule in der Vestergade, dem größten Gebäude der Stadt, über das neue Posthaus in der Havnegade, über die Verbesserung der Straßenbeleuchtung und die Beseitigung der offenen Rinnsteine, über das Straßennetz, das sich in alle Richtungen erweiterte, über die neuen Straßen, die am südwestlichen Rand der Stadt entstanden waren und ihre Namen nach den Seehelden des Landes bekommen hatten – Tordenskjoldsgade, Niels Juelsgade, Willemoesgade, Hvidtfeldtsgade.
    Es passiert häufig, dass ein Seemann gefragt wird, warum er an Land geht, und wenn jemand Albert Madsen fragte, antwortete er immer, dass er nicht an Land gegangen sei, sondern lediglich ein kleines Deck mit
einem größeren vertauscht habe. Die ganze Welt bewege sich vorwärts wie ein Schiff auf See, und die Insel sei lediglich ein solches Schiff im endlosen Meer der Zeit auf dem Weg in die Zukunft.
    Er erinnerte uns stets daran, dass die ersten Einwohner hier keine Inselbewohner waren. Ærø stellte damals lediglich einen Hügel inmitten einer wogenden Landschaft dar. Dann waren die großen Gletscher im Norden abgeschmolzen. Flüsse hatten sich durch das Land gegraben. Die gewaltigen Süßwasserseen im Süden waren größer geworden, hatten sich mit dem zuströmenden Meer verbunden, und der einstige Höhenzug war zu einer Insel geworden.
    Was kam zuerst?, fragte Albert. Das Rad oder das Kanu? Was wollten wir am liebsten überwinden? Das Gewicht der Lasten, die wir selbst nicht tragen konnten, oder die Todesfalle des Wassers, die fernen Horizonte des Meeres?
     
    Vom Hafen her waren Möwengeschrei, Hammerschläge aus den Werften und klapperndes Tauwerk, das im Wind schlug, zu hören. Darüber lag das Brausen des Meeres. Es war uns so vertraut, als würde es in unseren Gehörgängen wohnen. Amerika, alle sprachen in diesen Jahren von Amerika, und viele zog es dorthin. Uns zog es auch hinaus, aber nicht fort. Einst hatten wir unsere Häuser so dicht nebeneinander an den Strand gebaut, weil es nirgendwo sonst Platz gab. Die Felder besaßen die Gutsherrn, die Herzöge und Bauern. Wir waren die Übriggebliebenen. Dann richteten wir den Blick aufs Meer. Das Meer war unser Amerika, das sich weiter erstreckte als jede Prärie, ungezähmt wie am ersten Tag der Schöpfung. Niemand besaß es.
    Es war ein Orchester, das vor unseren Fenstern jeden Tag die gleiche Melodie spielte. Wir gaben ihr keinen Namen. Aber sie war

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