Wir Ertrunkenen
Jackenärmel an einem seiner Stiefel.
«Die Stiefel habe ich behalten», sagte er. «Der Rest interessiert mich nicht.»
Er stand auf. Dreißig Jahre nach seinem Besuch in Samoa trug er noch immer dieselben Stiefel.
II
DIE MOLE
O b Herman Frandsen ein Mörder war, wissen wir nicht.
Wenn er es war, kennen wir den Grund.
Seine Ungeduld ließ ihn zum Mörder werden.
Wir kennen keine einsamen Augenblicke. Immer gibt es irgendwo ein beobachtendes Auge, ein zuhörendes Ohr. Für jeden Einzelnen von uns errichtet das Gerede der Leute ein Monument. Noch das unbedachteste Wort zählt ebenso viel wie die längste in der Zeitung abgedruckte Rede. Ein verstohlener Blick wird sofort erwidert und fällt zurück auf den heimlichen Betrachter. Ständig geben wir uns neue Namen. Spitznamen sind die wahre Taufe. Durch Spitznamen bekräftigen wir, dass niemand sich selbst gehört. Nun bist du einer von uns, erklären wir denen, die von uns wiedergetauft werden. Wir wissen mehr über dich als du selbst. Wir haben dich gesehen, und wir haben mehr gesehen als das, was sich dir im Spiegel zeigt.
Rasmus Steißtrommler, Katzenquäler, Violinschlächter, Graf von Misthaufen, Schlafkammer-Klaus, Pinkel-Hans, Kamma Sprit – gibt es irgendjemanden unter euch, der glaubt, wir würden eure Geheimnisse nicht kennen? «Das Fragezeichen», so nennen wir dich, schließlich hat dein Buckel die Form eines Fragezeichens. «Der Mastknopf», wie könntest du auch anders heißen, bei einem so schulterlosen langen Körper und einem so kleinen Kopf?
Alle in unserer Stadt haben eine Geschichte, aber sie wird nicht von ihnen selbst erzählt. Es existiert ein Autor mit tausend Augen, tausend Ohren und fünfhundert Stiften, der sie unablässig notiert.
Und doch gab es eine Zeit, in der niemand sah, was Herman Frandsen tat. Nach diesem kurzen Moment war ein anderer Mensch für immer verschwunden. Im Grunde weiß niemand von uns etwas, es sind lediglich Vermutungen. Letzte Sicherheit werden wir nie erhalten, deshalb müssen wir uns unablässig mit den Dingen beschäftigen, die uns nicht klar sind.
Aber wir kennen sein Motiv. Wir fanden es in uns selbst.
Es geschah 1904 in einer Sommernacht, als Herman zwölf Jahre alt war. Er schlich aus der Haustür der Skippergade. Im Haus konnten wir Geräusche hören. Wie gewöhnlich rumorten seine Mutter Erna und Holger Jepsen flüsternd und seufzend in dem knarrenden Mahagonibett. Herman lief in südliche Richtung, bis er die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte. Dann ging er weiter bis zum Strand. Über ihm wurde die Milchstraße angeknipst. Sie hatte denselben Weg wie er. Sie wuchs über den Dächern der Kongegade aus der Nacht und verschwand irgendwo auf der anderen Seite der Halbinsel. Sie hatte weder Anfang noch Ende. In der Unendlichkeit des Universums gibt es keine Richtung, und doch war es uns immer so vorgekommen, als führte die Milchstraße genau wie ein richtiger Weg irgendwohin: übers Meer.
Herman blieb erst stehen, als er das Wasser erreicht hatte. Er zog die Schuhe aus und stand mit den Füßen in der schäumenden Brandung, während er zur Milchstraße hinaufsah, die ihren Weg ohne ihn fortsetzte. Ein Gefühl, das leicht mit Einsamkeit verwechselt werden konnte, überkam ihn. Aber es war nicht dieses Gefühl von Verlassensein, das ein Kind bisweilen empfindet, das seine Eltern verloren hatte. Eher war es wohl dieses Gefühl, das in einem Jungen aufkeimt, wenn andere Jungen, die größer sind als er, sich in ein Abenteuer stürzen, an dem er nicht teilhaben darf. Es schmerzt ihn, und er weiß nicht, dass Ungeduld diesen Schmerz gebiert. Er wünscht sich, auf der Stelle groß zu sein. Ihm wird klar, dass die Kindheit ein unnatürlicher Zustand ist und sich in ihm ein sehr viel größerer Mensch verbirgt, der er noch nicht sein darf und der erst jenseits des Horizonts in Erscheinung treten wird.
Herman erzählte uns nie von dieser Nacht, nicht einem Einzigen von uns.
Doch wir hatten selbst dort gestanden.
Herman hatte seinen Vater früh verloren. Ein Unglück, das viele von uns mit ihm teilten. Doch für Herman hatte der Tod seines Vaters eine besondere Bedeutung. Frederik Frandsen aus der Sølvgade verschwand zusammen mit seinem Schiff Ofelia auf einer Neufundlandreise. An Bord waren auch die beiden Brüder Hermans, Morten und Jakob. Es geschah im Jahr 1900, und Herman war acht Jahre alt, als er mit seiner Mutter allein zurückblieb. Erna war eine stattliche Frau,
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