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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Bord, wenn nicht mehr als eine frische Brise weht.»
    «Vielleicht habe ich nicht das richtige Wort verwendet», sagte Herman.
    Mit einem Mal fiel uns sein schrecklicher Hochmut auf.
    «Ich meine: Er sprang über Bord.»
    «Jepsen? Über Bord gesprungen?»
    Wir konnten nicht anders, wir mussten Hermans Erklärungen wiederholen, als wären wir ein Schwarm Papageien. So unbegreiflich war das, was er gerade gesagt hatte.
    «Ja», antwortete er.
    Wir hörten, wie sein Hochmut mit jedem Wort wuchs.
    «Er flennte doch ständig wegen Mutter. Schließlich hielt er es einfach nicht mehr aus.»
    Wir hätten ihn gern gefragt, ob er nicht auch über Erna geweint hatte, ob ihr Tod nicht auch für ihn ein Verlust war und nicht nur für Jepsen. Aber in diesem Augenblick begriffen wir, dass Herman seine Mutter verloren hatte, als sie Jepsen heiratete, und dass er nichts anderes als Verachtung empfand, wenn er die Verzweiflung seines Stiefvaters über den Tod der Mutter sah – und vielleicht noch das düstere Gefühl,
dass die Dinge nun ihren natürlichen Gang gingen und er sich durch die Trauer und Verzweiflung seines Stiefvaters gewissermaßen rechtfertigen konnte. War es Rache? Eine Rache, die sich vollendete, als Jepsen über Bord sprang? Oder – hier zögerten wir und sprachen es niemals laut aus, doch wir alle hatten diesen Gedanken, und wenn in Marstal viele das Gleiche denken, ist es so gut wie ausgesprochen – als Jepsen über Bord befördert wurde.
    «Wo sprang Jepsen denn über Bord?», wollten wir wissen.
    Wir spürten, dass wir uns bereits von der Wahrheit entfernten, als wir die Frage in dieser Form stellten.
    «Weiß ich nicht», antwortete der Bursche frech.
    «Du weißt es nicht? Aber das musst du doch wissen. War es an der Untiefe Mørkedybet zwischen den Inseln? Oder kurz vor Strynø? Denk nach. Das ist wichtig.»
    «Wieso ist das wichtig?»
    Herman sah uns trotzig an.
    «Wasser ist Wasser, und ein Ertrunkener ist ein Ertrunkener. Ist doch ganz egal, wo.»
    Wir kamen mit ihm nicht weiter.
    Früher oder später würde Jepsens Leiche an Land treiben, ans Ufer einer der zahlreichen kleinen Inseln zwischen Ærø und Fünen, auf Strynø, Tåsinge oder an die Küste von Langeland, vielleicht sogar in der Bucht von Lindelse. Sie würde daliegen und im Tang schwappen, halb aufgefressen von Fischen und Krebsen, doch eines würde sie von anderen Wasserleichen unterscheiden: In der Stirn hätte sie ein klaffendes Loch, verursacht von einem Marlspieker, einem halsenden Mastbaum oder einer der vielen anderen Waffen, die sich von jemandem, der einen Mord im Sinn hat, auf einem Schiff finden lassen.
    So dachten viele von uns.
    Doch Jepsen wurde nicht gefunden. Vielleicht sank er mit einem Stein um den Hals auf Grund und blieb dort unten. Oder seine Leiche trieb mit der Strömung südlich in die Ostsee, bis zum Ende auf großer Fahrt. Wir sahen ihn niemals wieder. Er kam nicht zurück, um Zeugnis abzulegen.
    Daher sprachen wir niemals laut aus, was wir dachten, obwohl einige von uns es flüsternd andeuteten: «Ist doch ziemlich eigenartig mit Herman, oder? Und Jepsen – sprang er wirklich über Bord?»

    Es wurde einsam um Herman. Er war erst ein Junge von fünfzehn Jahren. Doch er war auch etwas anderes, Unbekanntes. Wir klopften ihm auf die Schulter und lobten ihn schließlich doch, dass er die Tvende Søstre sicher zurück nach Marstal gebracht hatte. Das mussten wir tun. Er hatte ja etwas Außerordentliches vollbracht. Es gab keine anderen Jungen in seinem Alter, die dazu in der Lage gewesen wären. Sie wären vor Panik zusammengebrochen oder hätten aufgegeben. Er hatte die Härte, die dazugehörte, um ein guter Seemann zu werden. Doch gerade wegen dieser Härte lobten wir ihn und hielten uns gleichzeitig von ihm fern.
     
    Herman erbte die Tvende Søstre und das Haus in der Skippergade. Er war nicht alt genug, um als Eigentümer eines Schiffs oder eines Hauses aufzutreten, daher wurde für die Übergangszeit Jepsens Bruder Hans zu seinem Vormund ernannt. Er fand einen Kapitän und eine Besatzung für die Tvende Søstre. Herman verlangte, als Matrose angeheuert zu werden.
    Hans Jepsen lehnte ab.
    «Du hast nicht genügend Erfahrung», sagte er.
    «Zum Teufel noch mal, ich habe dieses Schiff ganz allein gesegelt», brüllte Herman mit rotem Kopf und ging drohend einen Schritt auf Hans zu. Der reagierte, indem er einen ebenso einschüchternden Schritt auf den aufgebrachten Burschen zutrat.
    «Du bist nur ein Junge, und als

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