Wir Ertrunkenen
was sowohl ihre Größe als auch ihren Umfang betraf; sie passte zu seinem Vater, der sich bei Türen immer bücken und seitwärts durchschieben musste – nicht nur durch die Tür der bescheidenen Kapitänskajüte an Bord der Ofelia, sondern auch daheim in der Sølvgade. Ihr Haus hatte so niedrige Decken, dass die ganze Familie sich nur unter Gottes freiem Himmel zu ihrer vollen Größe aufrichten konnte. Abgesehen von Herman natürlich.
Erna heiratete bald wieder, und diese Heirat trug ihr den etwas unverdienten Ruf ein, hartherzig zu sein, denn wir hätten ebenso gut das Gegenteil behaupten können. Ging sie so schnell eine neue Ehe ein, weil sie nicht die Zeit fand zu trauern oder eher weil ihr Herz so wenig Widerstandskraft gegen die Einsamkeit entwickelte, dass sie Trost suchte, wo sie nur konnte? Ihr neuer Ehemann war der Kapitän der Tvende Søstre, Holger Jepsen aus der Skippergade, ein bescheidener Mann, von dem alle dachten, er hätte sich mit seinem Junggesellendasein abgefunden.
Holger Jepsen war klein. Er wirkte drahtig, als wäre sein Skelett mit Hanfseilen umwickelt, und doch machte er einen schmächtigen Eindruck. Er sah beinahe komisch neben der stattlichen Erna aus, an deren Seite er vollkommen verschwand. Nach ihrer Eheschließung hieß er nur noch «der Junge».
Doch Jepsen musste etwas in Erna zum Leben erweckt haben. Plötzlich konnte sie erröten. Es war eine völlig neue Eigenschaft, die nie zuvor jemand an ihr bemerkt hatte. Ihr Schnurrbart verschwand. Immer hatte sie einen deutlichen Schatten auf der Oberlippe gehabt. Niemand wusste, ob das kratzte. Erna war nicht der Typ, der irgendjemanden küsste, auch ihre eigenen Kinder nicht.
Frederik Frandsen war ein ungehobelter Bursche gewesen, und es herrschte allgemeines Einvernehmen darüber, dass die mannhafte, breitschultrige
Erna gut zu ihm gepasst hatte. Nun wurde sie geradezu sanft, wenn man sich eine Frau als sanft vorzustellen vermag, die über schaufelgroße Hände verfügte. Es schien, als hätte Jepsen in dem Hünenweib ein kleines Mädchen entdeckt und hervorgelockt, das zu seiner eigenen Körpergröße passte.
Herman gefiel das nicht. Er hatte bereits einen Vater und zwei Brüder verloren, möglicherweise glaubte er, nun auch noch seine Mutter zu verlieren. In Jepsens Haus muss er sich heimatlos gefühlt haben, als wäre er in ein fremdes Land gekommen, in dem eine andere Sprache gesprochen wurde, obwohl Jepsen sich anständig benahm und seinem Stiefsohn schon früh ein kleines Boot schenkte und ihm beibrachte zu wriggen, Segel zu setzen, Knoten zu schlagen und alles Übrige, was er wissen musste, um auf See zurechtzukommen. Doch Jepsen hatte Hermans Ansicht nach eine unverzeihliche Sünde begangen, nämlich Erna zu einem harmlosen Weibsbild gemacht. All das Geschmuse und Händchenhalten sei schlecht für die Gesundheit, erklärte Herman allen, die es hören wollten. Er spielte sich als Ernas rechtmäßiger Besitzer auf, der sein Eigentum in die falschen Hände geraten sah. Wir waren davon überzeugt, dass seiner Meinung nach das Beste an Erna ihr Schnurrbart gewesen war.
Später gab Herman dem Stiefvater die Schuld am Tod seiner Mutter. Erna starb an Blutvergiftung, zwei Tage nachdem sie einen Dorsch ausgenommen hatte. Ein Angelhaken hatte sich in dem weißen Fleisch versteckt und ihr den Mittelfinger aufgerissen. Sie kümmerte sich nicht darum. Sie zog den Haken heraus, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen. Das war die alte Erna, wie Herman sie mochte. Aber kurze Zeit später war sie tot, obwohl Jepsen Doktor Kromann geholt hatte, der wie immer tat, was er konnte.
Herman meinte, sie wäre nicht gestorben, wenn sein Vater noch gelebt hätte. Zu Hause in der Sølvgade wäre seine Mutter noch immer die große granitharte Frau, die sie einmal gewesen war, und nicht diese schwatzende, errötende, schnurrbartlose, verliebte Qualle, zu der Jepsen sie degradiert hatte, seit sie in die Skippergade umgezogen waren.
Dass Herman sechs Jahre nach dem Tod seines Vater noch immer «zu Hause in der Sølvgade» sagte, obwohl er den größten Teil seiner Kindheit
in der Skippergade gewohnt hatte, hätte seinem Stiefvater möglicherweise eine Warnung sein können.
Erna und Jepsen bekamen keine eigenen Kinder. Wenn wir in munterer Runde in Webers Café saßen, sagten wir immer, es müsse wohl daran liegen, dass Jepsen zu klein war, um zwischen Ernas majestätischen Schenkeln, deren Durchmesser und Länge dem Besanmast der Tvende
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