Wir Ertrunkenen
sahen wir die Tvende Søstre mit Kurs auf die Hafeneinfahrt auftauchen. Auf der Dampskibsbro kam es rasch zu einem Auflauf. Was ging da vor? Die Segel waren gesetzt. Es wehte eine frische Brise. Wir erkannten bereits aus weiter Entfernung, dass das Schiff viel zu große Fahrt hatte und beim Einlaufen in den Hafen entweder mit der Mole oder einem der Schiffe havarieren würde, die an den schwarz geteerten Duckdalben im Hafenbecken vertäut lagen.
Es stand jemand am Ruder, aber das war auch das Einzige, was an Bord zu erkennen war. Als die Tvende Søstre näher kam, sahen wir, dass der einsame Rudergänger Herman war, bekleidet mit gelbem Ölzeug und einem Südwester.
Einen Augenblick dachten wir, die Tvende Søstre würde den Kai rammen. Dann drehte Herman mit einer Bewegung, deren Eleganz nicht zu übersehen war, in letzter Sekunde das Ruder, so dass das Schiff einem Aufprall entging und stattdessen mit nur fünf Zoll Abstand die Hafenmauer entlangglitt, ohne sie jedoch zu berühren. Das Tempo war noch immer hoch und die Gefahr einer Kollision mit den vertäuten Schiffen im Hafeninneren unvermindert.
Wenn die Situation nicht so rätselhaft gewesen wäre, ja offenbar geradezu
verzweifelt, hätten wir gedacht, dass der Junge bloß darauf aus war, sich wichtig zu machen.
In diesem Moment schoss eine massige Gestalt aus der Gruppe auf der Dampskibsbro und landete mit einem Satz an Deck der Tvende Søstre. Es war Albert Madsen. Er war damals Mitte sechzig, und er tat, was wir, alle deutlich jünger als er, hätten tun sollen. Er hatte erkannt, dass an Bord der Tvende Søstre irgendetwas Furchtbares passiert sein musste. Der Schiffsjunge allein an Deck, sämtliche Segel gesetzt, das Schiff auf Kollisionskurs.
Wir standen nur da und gafften, als ginge es hier um eine Wette: Ob er es wohl durch die Hafeneinfahrt schafft?
Albert griff ein. Es war über zehn Jahre her, dass er das letzte Mal ein Schiff geführt hatte. Aber der Kapitän in ihm lebte noch.
Er schritt übers Deck und legte eine Hand auf Hermans Schulter. Herman blickte auf und tat dann etwas, das wir überhaupt nicht verstanden. Er schlug nach Albert. Sie waren ungefähr gleich groß und kräftig gebaut, der für sein Alter erstaunlich groß gewachsene Junge und der alte Mann. Der Junge hatte die Kraft der Jugend, aber Albert Madsen verfügte über die Erfahrung, und seine Antwort kam sofort. Es war seine berühmte Ohrfeige, die schon immer einen ausgewachsenen Mann mehrere Meter über Deck schleudern konnte. So auch dieses Mal.
Kein Wort wurde zwischen ihnen gewechselt. Dazu war keine Zeit. Als Albert zum Ruder griff, betrug der Abstand zur Eos, die mitten im Hafen an einer der Duckdalben vertäut lag, nur wenige Meter. Es gelang ihm, das Schiff querab zu bekommen, und als das Heck der Tvende Søstre an den Bug der Eos prallte, hatte sich die Fahrt so weit verlangsamt, dass kein großer Schaden entstand.
Herman war auf die Beine gekommen. Er hatte den Südwester verloren und hielt sich die brennende Wange. Er starrte Albert an, als hätte der nicht gerade das Schiff vor einer Havarie bewahrt, sondern stattdessen irgendein großartiges Spiel zerstört, das er allein spielen wollte. Herman fühlte sich gedemütigt. Wir alle sahen es, als wir die Tvende Søstre am Kai vertäut hatten und die Schäden besichtigten.
Niemand tadelte ihn. Es gab aber auch niemanden, der ihn lobte, obwohl er es wahrscheinlich verdient hätte. Er war erst fünfzehn und hatte allein ein Schiff in den Hafen manövriert. Möglicherweise war dies der
Moment, an dem die Weichen falsch gestellt wurden: mit Alberts Ohrfeige und unserem Schweigen. Vielleicht hatte sich aber auch vor langer Zeit bereits etwas in Hermans Innerem falsch entwickelt. In der Nacht, in der er die Milchstraße betrachtete, hatte er das Schweigen der Sterne missverstanden.
Wir wissen es nicht.
Wir hatten in diesem Augenblick an Wichtigeres zu denken als an die Gefühle eines fünfzehnjährigen Jungen. Ein Schiff war in den Hafen eingelaufen, lediglich mit dem Schiffsjungen an Bord. Wo war der Kapitän? War er in Rudkøbing an Land gegangen, war Herman mit dem Schiff durchgebrannt?
«Was ist mit Jepsen passiert?», fragten wir Herman, der sich die schmerzende Wange rieb.
«Er ist über Bord gefallen.»
Er sprach die Worte mit einer solch abwesenden Miene aus, als müsste er erst einmal überlegen, wer Jepsen überhaupt war.
«Über Bord gefallen? Es fällt doch niemand zwischen Marstal und Rudkøbing über
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