Wir Ertrunkenen
überall. Sogar im Bett, wenn wir schliefen, träumten wir vom Meer. Nur die Frauen hörten die Melodie nicht. Sie konnten es nicht. Oder sie wollten es nicht. Wenn sie auf der Straße standen, sahen sie nie hinunter zum Hafen. Sie schauten landeinwärts auf die Insel. Sie mussten daheim bleiben und die Lücken schließen, die wir hinterließen. Wir hörten den Gesang der Sirenen, sie verstopften sich die Ohren und beugten sich über den Waschtrog. Sie wurden nicht verbittert, aber hart und pragmatisch.
Was sollte Albert Madsen in der Weltstadt Marstal vermissen? Er konnte sich auf eine Bank am Hafen setzen und mit Christian Aaberg plaudern, der als erster Däne überhaupt Afrika zu Fuß durchquert hatte. Knud Nielsen war gerade nach siebzehn Jahren an der japanischen Küste nach Hause zurückgekehrt. Kap Hoorn war für Seeleute auf der ganzen Welt eine Prüfung des Mannesalters. Die Hälfte der männlichen Bevölkerung der Stadt hatte das gefährliche Kap mit der gleichen Selbstverständlichkeit umrundet, wie sie den Dampfer nach Svendborg nahmen.
Alle Wege und Straßen in Marstal waren Hauptstraßen. Alle führten sie hinunter zum Welthafen. China lag in den Gärten hinter unseren Häusern. Durch die Fenster unserer niedrigen Stuben sahen wir die Küste Marokkos.
Ein paar Querstraßen gab es auch in der Stadt, aber sie waren zu vernachlässigen. Die Tværgade, Kirkestræde und Vestergade liefen nicht auf den Hafen zu, sondern parallel dazu. Wir hatten nicht einmal einen Marktplatz. Aber dann wurden in der Kirkestræde eine Metzgerei eröffnet, ein Haushaltswarenladen, zwei Textilgeschäfte, ein Seifenhaus, eine Sparkasse, eine Uhrmacherwerkstatt und ein Friseursalon. Die Herberge riss man ab. Nun sollten wir wie andere Städte auch einen Marktplatz erhalten. Plötzlich besaßen wir eine Hauptstraße, die in die falsche Richtung lief. Statt zum Hafen zu führen, verlief sie parallel zur Küste und wies in das Herz der Insel. Es war die Straße und der Weg der Frauen, fort vom gefährlichen Meer.
Die Straßen trafen und kreuzten sich. Es gab Straßen der Männer und Straßen der Frauen, zusammen bildeten sie ein Muster. In der Kongegade und der Prinsegade hatten die Schiffsmakler und Reeder ihre Kontore, in der Kirkestræde kauften die Frauen ein. Ein Gleichgewicht begann sich zu verschieben.
Doch anfangs gab es niemanden, der darüber nachdachte oder begriff, welche Konsequenzen sich daraus ergeben konnten.
Die Jahre nach 1890 waren die Blütejahre Marstals. Unsere Flotte wuchs, bis nur die Flotte Kopenhagens sie noch übertraf. Dreihundertsechsundvierzig Schiffe! Es herrschte Hochkonjunktur und Investitionsfieber. Alle wollten Anteile an einem Schiff, selbst die Schiffsjungen und Dienstmädchen. Und wenn ein Schiff von einer Fahrt heimkehrte und
für den Winter festmachte, wimmelte es auf der Straße von Kindern, die mit geschlossenen Briefumschlägen herumliefen. Es war der Gewinn, der in beinahe jedes einzelne Haus verteilt wurde.
Ein Schiffsmakler muss wissen, was der Japanisch-Russische Krieg für den Frachtmarkt bedeutet. Er braucht sich nicht für Politik zu interessieren. Aber er muss sich für die finanziellen Verhältnisse seiner Kapitäne interessieren, und daraus folgt das Wissen um die Feindschaft zwischen den Nationen ganz von allein. Er kann in einer Zeitung die Fotografie eines Staatsoberhaupts aufschlagen und liest, wenn er tüchtig genug ist, aus dessen Gesicht seinen künftigen Gewinn heraus. Der Sozialismus interessiert ihn höchstwahrscheinlich nicht. Darauf könnte er einen Eid ablegen. Noch nie hat er einen solch weltfremden Unfug gehört. Doch eines Tages stellt sich die Besatzung in einer Reihe auf und fordert mehr Heuer, und dann muss er seine Nase auch in die gewerkschaftliche Frage und andere sonderbare Ideen über die zukünftige Ordnung der Gesellschaft stecken. Ein Makler muss sich auf dem Laufenden halten: über die Namen fremder Staatsoberhäupter, die aktuellen politischen Strömungen, die Feindschaft zwischen Nationen und Erdbeben in fremden Erdteilen. Er lebt von Kriegen und Katastrophen. Aber vor allem lebt er davon, dass die Welt zu einer großen Baustelle geworden ist. Die moderne Technik verändert alles, und er muss ihre Geheimnisse kennen, die neuesten Erfindungen und Entdeckungen. Salpeter, Dividivi, Sojakuchen, Bauholz zum Abstützen der Bergwerkstollen, Soda, Farbhölzer – für ihn sind das nicht nur Begriffe. Er hat weder Salpeter berührt noch ein
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