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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Stück Farbholz gesehen. Er weiß nicht, wie Sojakuchen schmeckt, und preist sich möglicherweise aus genau diesem Grund glücklich, aber er ist im Bilde darüber, wozu all das verwendet wird und wo es gebraucht wird. Er kann sich nicht wünschen, dass die Welt stillsteht. Dann müsste er sein Kontor schließen. Ihm ist klar, was es heißt, Seemann zu sein: unentbehrlicher Handlanger in dieser großen Werkstatt, in die die moderne Technik die Welt verwandelt hat.
     
    Einst segelten wir nur mit Korn. Wir kauften es an einem Ort und verkauften es an einem anderen. Nun umschiffen wir die Welt mit Frachträumen voller Waren, deren Namen auszusprechen wir erst lernen müssen
und deren Nutzanwendung man uns erklären muss. Unsere eigenen Schiffe wurden für uns zu einer Schule.
    Wir fuhren noch immer unter Segeln, wie Seeleute es Tausende von Jahren getan hatten. Doch in unseren Frachträumen lag die Zukunft.
     
    Albert ging an Land, als er zirka fünfzig Jahre alt war. So machten es die meisten von uns. Wenn wir dreißigtausend Kronen gespart hatten, brachten wir sie auf die Sparkasse, wo sie einen jährlichen Zins von vier Prozent einbrachten. Das bedeutete eine monatliche Auszahlung von hundert Kronen. Damit waren wir versorgt. Doch Albert hatte sehr viel mehr verdient, und er legte sein Geld nicht auf der Bank an, sondern in Schiffen. Er wurde Reeder und Schiffsmakler. Es gab viele, die Schiffsanteile kauften; sogar die Bauern in der Inselmitte investierten. Von der Seefahrt verstanden sie nichts, umso nötiger war also ein Reeder, der selbst einmal zur See gefahren war und das Meer kannte. So etwas nannte man einen korrespondierenden Reeder, und Albert wurde ein korrespondierender Reeder wie kein Zweiter. Während seiner zahlreichen Reisen hatte er in Rotterdam die Bekanntschaft eines jüdischen Schneiders gemacht, der an Bord der Schiffe kam und für die Seeleute nähte. Damals waren sie Freunde geworden. Luis Presser war ein tüchtiger Geschäftsmann. Er hatte sich in Le Havre niedergelassen und mit einer Reederei etabliert, die sieben große Barken besaß. Als Heimathafen für seine Schiffe ließ er Marstal eintragen und machte Albert, der gerade an Land gegangen war, zum korrespondierenden Reeder.
    In Le Havre hatte Albert sich in Pressers Ehefrau verliebt, die hübsche Chinesin Cheng Sumei. Und sie sich in ihn. Sie hatten sich angesehen und gewusst, dass sie sich zu spät in ihrem Leben begegnet waren. Auf den Resten dessen, was eigentlich eine Liebe hätte sein sollen, bauten sie eine Freundschaft auf. Dann starb Luis Presser unerwartet an Lungenentzündung, und die Witwe übernahm die Reederei, die sie mit noch größerem Erfolg als ihr verstorbener Ehemann weiterführte. Vielleicht war sie auch schon immer die Frau hinter dem Mann gewesen. Nun wurde sie jedenfalls die Frau hinter Albert. Sie gab ihm Ratschläge, als er vom Kapitän der Brigg Princess zum Reeder von zehn Schiffen aufstieg.
    Ihre Geschäfte waren nach und nach so eng miteinander verknüpft,
dass die Reederei in Le Havre sich beinahe nicht mehr von der Reederei in Marstal unterscheiden ließ. Auch in Albert schlummerte ein Talent, Geld zu vermehren. Er hatte einst im Stillen Ozean mit einem Beutel Perlen in der Hand an Deck eines Schiffs gestanden. Die Perlen hätten ihm all seine Wünsche erfüllen können. Aber er hatte sie ins Meer geworfen, weil er spürte, dass diesem Reichtum ein Fluch anhaftete, der auf ihn übergehen konnte. Nun legte die Chinesin ihm einen neuen Beutel Perlen in die ausgestreckte Hand. Und dieses Mal öffnete er ihn.
    Ob auch die beiden so eng miteinander verbunden waren wie ihre Reedereien, wissen wir nicht. Das Leben hatte manche Veränderung von ihnen gefordert. Erst hatten sie ihre aufkeimende Liebe begraben müssen und waren stattdessen Freunde geworden, nun stand ihnen die Möglichkeit der Liebe wieder offen. Ergriffen sie die Chance?
    Cheng Sumei hatte keine Kinder, sondern sprach immer von den großen, eleganten Barken Claudia, Suzanne und Germaine als ihren Töchtern. Nun war sie zu alt, um Kinder zu gebären, obwohl man es ihren asiatischen, seltsam alterslosen Zügen nicht ansah. Sie hielten sich öffentlich an der Hand. Sie schliefen wohl auch miteinander, die zierliche Chinesin mit der glatten, polierten Haut, die sich so hübsch über die hohen Wangenknochen spannte, und der große, grobschlächtige Mann, der durchaus allein ein Doppelbett ausfüllen konnte. Aber sie heirateten nicht.
    Sie war in

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