Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
Schanghai geboren; ihren Vater und ihre Mutter hatte sie nie kennengelernt. Sie war eine Waise und hatte auf der Straße als Blumenverkäuferin überlebt. Viele von uns waren ihr in Rotterdam begegnet, als Presser noch lebte und an Bord der Schiffe kam, um Maß zu nehmen. Doch auch in Sydney und Bangkok, Bahia und Buenos Aires war sie gesehen worden. In einem Bordell behaupteten manche. Andere wollten sie als Wirtin eines boardinghouse erkannt haben. Alle wussten wir ein bisschen. Aber niemand konnte etwas mit Bestimmtheit sagen. Sie hätte neun Leben wie eine Katze haben müssen, wenn sie an all den Orten gewesen wäre, an denen wir sie gesehen haben wollten. Auf jeden Fall war sie ebenso weit herumgekommen wie ein Seemann auf großer Fahrt.
    Marstal besuchte sie nie. Albert fuhr nach Le Havre. Eines Tages jedoch reiste er nicht mehr dorthin. Wir dachten, sie hätten sich getrennt.
Doch dann erfuhren wir, dass sie plötzlich gestorben war. Albert erzählte uns nichts. Wir fanden es nach und nach selbst heraus. Wieso hatten sie nicht geheiratet? Wieso hatten sie nicht zusammengelebt?
    Lag es an Albert, dessen Liebe nicht groß genug war? Oder lag es an ihr?
    «In der Eile habe ich es vergessen», sagte er, wenn jemand unverfroren genug war, ihn zu fragen, wieso er nie geheiratet habe. Die Antwort brachte uns alle zum Lachen. Dabei sahen wir uns besserwisserisch an. Die Möglichkeit hätte es ja gegeben.
    Albert erwarb erst den alten Kaufmannshof, der auf der rechten Seite der Prinsegade lag, wenn man vom Hafen kommt. Dann zog er auf die andere Seite der Straße und ließ ein ganz neues Haus mit einem hohen Wohnzimmer und einer Etage darüber bauen. Es hatte einen großen, nach Osten hinausgehenden Balkon, von dem aus er die Mole und das Inselmeer sehen konnte. Auch gab es einen Erker zur Straße. Auf das kleine Feld über der Eingangstür ließ er seinen Namen mit vergoldeten Buchstaben schreiben. Albert Madsen.
     
    Schräg gegenüber hatte Lorentz Jørgensen sich niedergelassen und als Schiffsreeder etabliert. Viele Jahre makelte er für Albert. Dick und kurzatmig war er gewesen, mit einem ständig bettelnden Blick. Dann hatte das Meer ihn abgehärtet, und wir vergaßen, dass wir früher einmal gedacht hatten, er sei nur ein fetter Halbmann ohne Klicker im Beutel. Aber auch er war nicht auf See geblieben. Er hatte sein Steuermannspatent bestanden und war an Land gegangen. Obwohl er nicht viel von seiner bescheidenen Heuer sparen konnte, hatte er doch Talent genug, um sein Geld zu vermehren. Er kaufte Schiffsanteile, konnte in der Sparkasse gut für sich sprechen, und auch mit Sofus Boye, dem größten Reeder der Stadt, ging er eine Art Partnerschaft ein. Wir nannten ihn Bauern-Sofus, weil er aus Ommel stammte, einem drei Kilometer von Marstal entfernt liegenden Dorf.
    Lorentz Jørgensen war noch keine dreißig Jahre alt, als er uns überredete, von Langeland ein Telegrafenkabel legen zu lassen. Er sagte «Weltmarkt» und «Telegraf», zwei Worte, von denen wir im Grunde nicht viel verstanden, und dann verknüpfte er diese beiden Worte in einer Weise, bis wir begriffen, dass der Weltmarkt für uns das Gleiche war wie die
Scholle für den Bauern und dass wir ohne einen Telegrafen nicht mit dem Weltmarkt in Verbindung treten konnten.
    Vom Staat bekamen wir eine abschlägige Antwort, als wir um Hilfe ansuchten. Also ging Lorentz zur Marstaler Sparkasse und danach zu einer Audienz bei Sofus Boye. Bauern-Sofus war ein bescheidener Mann, der sich – obwohl er die größte Reederei der Insel besaß – noch immer am Fähranleger aufstellen konnte, um ein paar Extraschillinge als Gepäckträger zu verdienen. Irgendwelche Büroangestellte hatte er nicht. Er tippte sich immer mit seinem Zeigefinger an die Stirn und behauptete, er habe alles im Kopf. Doch Bauern-Sofus hörte zu, als Lorentz ihm das sprechende Kabel beschrieb, das sämtliche Entfernungen aufheben konnte.
    «Es ist völlig egal, ob du in einer großen oder einer kleinen Stadt lebst. Es ist egal, ob du auf der kleinsten Insel weit draußen im Meer wohnst, Hauptsache, du verfügst über einen Telegrafen, dann bist du der Mittelpunkt der Welt.»
    Für die meisten klang so etwas nach Phantasterei, nicht jedoch in den Ohren von Bauern-Sofus, die bei manch anderen Dingen durchaus verstopft sein konnten. Er ging mit Lorentz in die Sparkasse und bat ihn zu wiederholen, was er gerade erzählt hatte.
    «Der Mittelpunkt der Welt», sagte Lorentz.
    Ein Blick von

Weitere Kostenlose Bücher