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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Weiberkram.
    Er machte sich fertig, um ins Bett zu gehen. Ob er im Schlaf wohl Ruhe finden würde?
    Wütend stampfte er mit dem Fuß auf, als könnte er so die Geister seiner Unruhe verscheuchen. Das fehlte noch, dass er wie ein Kind Angst vor der Nacht hatte.
     
    Endlich brach der Tag an. Es war der 26. September. Hunderte von Menschen waren erschienen, und Albert referierte einmal mehr die Entstehung und Geschichte der Mole. Ein Chor junger Damen sang auf die Melodie eines patriotischen Liedes ein Stück, das er selbst verfasst hatte; es war ihm gelungen, jeglichen Pessimismus aus dem Text zu verbannen.
    Er entfernte eine große Dannebrog-Fahne, die man über dem Stein
drapiert hatte, und in diesem Augenblick warf die versammelte Menge zahllose Blumenbuketts auf das Denkmal. Der Vorsitzende der Hafenkommission hielt eine Dankesrede, und der Festakt endete mit einem dreifachen «Hurra!» auf König Christian X., dessen Geburtstag an ebendiesem Tag begangen wurde.
    Am Abend gab es ein Festbankett für hundert geladene Gäste im Hotel Ærø, darunter Polizeimeister Krabbe aus Ærøskøbing, dessen Frau Alberts Tischdame war. Gereicht wurden Hasenbraten und Kuchen sowie diverse Getränke. Albert hielt die Festrede und forderte die Gesellschaft am Ende auf, sich zu erheben und ein dreifaches «Er lebe hoch!» auf seine Majestät auszurufen und «König Christian stand am hohen Mast» zu singen, worauf er ein Glückwunschtelegramm an den König verlas, das er selbst verfasst hatte, und die Versammelten bat, sich dem Absender anzuschließen. Dann wurde mehrfach auf das Vaterland und die Flagge angestoßen, und diverse Honoratioren der Stadt hielten gegenseitige Grußreden. Um halb zwölf traf ein Dankestelegramm Seiner Majestät ein, danach wurde der Ball eröffnet.
    Der Abend verlief für Albert ohne besondere Vorkommnisse. Er war die ganze Zeit über aufmerksam, hatte nicht das Gefühl zu versinken, und es stellten sich auch keine Erscheinungen ein, bei denen er glaubte, dass die Gäste in ihren Festgewändern zusammen mit den reich gedeckten Tischen auf dem Meer schwammen.
    Nachdem er als Gastgeber des Abends gegen halb zwei die letzten Gäste verabschiedet hatte, konnte er um die Ecke der Prinsegade biegen und einer traumlosen Nacht zu Hause entgegengehen.
    Als er am nächsten Morgen erwachte, ging ihm durch den Kopf, dass er ein Mensch sei, der seinen Seelenfrieden gefunden habe.
     
    Albert Madsen war neunundsechzig Jahre alt und hatte erreicht, was er wollte. Er hatte keine Kinder, und das bedauerte er. Aber in der Stadt, in der er lebte und die er als die seine ansah, ging es noch immer aufwärts. Auf den Werften wurden so viele Schiffe wie nie zuvor gebaut, und die führende Werft der Stadt wollte sich schon bald umstellen und in einen modernen Betrieb verwandeln. Statt auf Holzschiffe wollte man nun auf Stahlschiffe setzen. Im Frühjahr hatte Seine Majestät der König der flaggengeschmückten Stadt einen Besuch abgestattet. Die Flotte
war mit sechs Torpedobooten da gewesen. Es gab Pläne für ein neues Posthaus und eine kupferne Kirchturmspitze, die den alten Dachreiter ablösen sollte.
    Am Hafen stand der Gedenkstein für die Mole als Beweis dafür, dass die Stadt sich ihrer Geschichte erinnerte und begriff, dass sie in der Schuld früherer Generationen stand. «Einigkeit macht stark» stand auf dem Stein. Es war sein persönliches Glaubensbekenntnis, das der Bildhauer Johannes Simonsen mit peinlich genauen Buchstaben dort eingemeißelt hatte. Nun war es auch das Glaubensbekenntnis der Stadt geworden.
    Er wusste, dass die Quelle seines Wohlbefindens nicht nur die geglückte Enthüllung des Gedenksteins und das anschließende Fest war, sondern etwas weit Größeres: die harmonische Übereinstimmung, die er zwischen sich und einer ständig fortschrittlicheren Welt verspürte. Er öffnete das Giebelfenster, und dort lag es vor ihm im sanften Sonnenlicht dieses frühen Septembermorgens: Hinter dem Gitterwerk der Masten breiteten sich die Mole und das Inselmeer aus. Er hörte die Schreie der Möwen, begleitet von Hammerschlägen und dem Kreischen der Sägen aus den Werften der Stadt. In einer Art Triumph wurde ihm klar, dass diese Geräusche im selben Moment in den Hafenstädten aller Kontinente zu hören waren und er sich genau dort befand, auf der ganzen Welt gleichzeitig, in einer großen Einheit.
    Später musste er an diesen Tag immer als «Abschluss» denken. Er sprach nie davon, welche Art von Abschluss es

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