Wir Ertrunkenen
Autorität eines Kapitäns auf dem Vertrauen in sein Wissen basieren solle, nicht auf Hokuspokus.
Es geschah in der Zeit nach der Einweihung des Gedenksteins, dass sich vor Albert ein graues Nichts auftat. Er sah Menschen sterben, die er kannte. Und am Tag darauf entdeckte er, wie sie quicklebendig in den Straßen der Stadt umhergingen. Seine Träume waren rätselhaft. Er kannte den Zeitpunkt der Todesfälle nicht, die sich vor seinem inneren Auge abspielten. Die Umstände waren immer dramatisch und grauenerregend. Er sah, wie Menschen an Deck eines Schiffs erschossen wurden, er sah auf Schiffen Feuer ausbrechen, er sah schwarze Schatten im Meer, und er verstand nichts von dem, was er sah.
Aber er zweifelte nie daran, dass die Träume die Wahrheit erzählten. Er wusste, dass all diese Menschen, die er grüßte, denen er die Hand schüttelte, mit denen er sprach und denen er mehr und mehr aus dem Weg zu gehen versuchte, unter grausamen und unerklärlichen Umständen sterben mussten.
Sie selbst wussten es nicht.
Er bewegte sich in einer Stadt zukünftiger Toter.
Seinen ersten Traum über die zukünftigen Unglücksfälle hatte Albert in der Nacht vom 27. auf den 28. September 1913.
Er sah ein Schiff und erkannte den Dreimastschoner Freden aus Marstal. Dann hörte er einen Schuss. Die Mannschaft kam sofort an Deck. Die Rahen wurden back gebrasst und die Bramsegel abgefiert. Das Schiff stand sofort still. Er sah, dass die Mannschaft daran arbeitete, die Rettungsboote zu Wasser zu lassen. Aus Gründen, die er nicht verstand, schienen sie diesem einen Schuss große Bedeutung beizumessen. Am Schiff war keinerlei Schaden zu entdecken.
Dann ertönten mehrere Schüsse. Einer der Männer griff sich plötzlich
an die Schulter, der Arm hing schlaff herunter. Der Kopf eines anderen flog in den Nacken, als hätte ihn eine unsichtbare Hand an den Haaren gezogen. Aus seiner Stirn schoss ein Blutstrahl, er stürzte aufs Deck. Nun waren ununterbrochen Schüsse zu hören. Mehrere Projektile schlugen in das Rettungsboot, und als es die Wasseroberfläche erreichte, begann es Wasser aufzunehmen. Die Besatzung stand bald bis zur Hüfte im Wasser, während sie daran arbeitete, die Lecks abzudichten. Der intensive Beschuss setzte sich fort. Ein Mast nach dem anderen ging über Bord. Dann verschwand das Schiff in der Tiefe.
Das Wetter war stürmisch, mit hohem Seegang, Wolken jagten über den Himmel. Das Rettungsboot lag schwer im Wasser. Die Männer an den Rudern mühten sich verbissen ab. Auf ihren Gesichtern war zunächst das Entsetzen, dann die Erschöpfung abzulesen. Das Licht verschwand. Es wurde dunkel, und eine lange Zeit verging, bis das Licht zurückkam. Er ging davon aus, dass es Nacht geworden war und nun der Morgen graute. Noch immer stürmte es, und die Wellen türmten sich unter den dahinjagenden Wolkenfetzen. Zwei Männer lagen ausgestreckt in der Jolle. Die anderen hoben sie auf und beförderten sie über Bord. Für einen kurzen Moment sah er ein bleiches, im Tod eingefallenes Gesicht. Es war Kapitän Christensen, dem er am Abend zuvor während des Festes für den Gedenkstein zugeprostet hatte.
In der folgenden Nacht sah er den Schoner H. B. Linnemann unter der Notflagge liegen. Wie im vorherigen Traum registrierte er, dass die Mannschaft an Deck lief, um das Rettungsboot zu Wasser zu lassen. Wieder hörte er Schüsse und war außerstande, ihren Ursprung zu orten. Er sah den Kapitän des Schiffs, L. C. Hansen, den er sofort wiedererkannte, auf dem Halbdeck direkt unter dem wehenden Dannebrog stehen. Kapitän Hansen ging in die Knie, wobei er die Hände auf einen seiner Schenkel presste, auf dem sich ein großer dunkelroter Fleck ausbreitete. Einen Augenblick später wurde er am Kopf getroffen und war aus dem Kreis der Lebenden getilgt. In rascher Folge wurden weitere drei Besatzungsmitglieder erschossen.
Allmählich verstand er, was er da eigentlich sah: die Brutalität und Unbarmherzigkeit, die unerklärlichen Erschießungen friedlicher Seeleute, das Versenken von Schiffen.
Seine Träume warnten vor einem Krieg.
Er dachte an Kommandant Carstensen: Er sollte seinen Krieg bekommen. Und was würde ihn erwarten? Dunkel ahnte Albert, dass er nicht nur Menschen in seinen Träumen sterben sah. Es war eine ganze Welt, die unterging.
Er konnte sich dieses Gefühl nicht näher erklären, nur, dass es ihn wie ein großer Kummer packte und ihm die Freude an der Aussicht aus dem Giebelfenster nahm. Die Mole, welchen
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