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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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unter sich sah er schwarze Wolken dahinziehen.
    Er wurde von einer Stimme in die Wirklichkeit zurückgerufen, die ihn direkt ansprach. Es war der Kommandant der sechs Torpedoboote, Gustav Carstensen, der ihm ein Kompliment machen wollte.
    «Ich hörte von dem Gedenkstein, den Sie ja zu verantworten haben. Mir wurde von all den Menschen berichtet, die ihn an seinen Platz gezogen haben. Ja, die Jugend hat Energie. Es geht nur darum, sie zu bündeln. Aber als Kapitän kennen Sie ja die Bedeutung der Disziplin.»
    «Ich glaube an das Gleichgewicht der Kräfte und an die Einigkeit», erwiderte Albert.
    «Ja, Einigkeit, das ist wichtig», sagte der Kommandant und starrte nachdenklich vor sich hin, als hätte er in Alberts Antwort nur ein Stichwort gefunden, das ihm die Möglichkeit gab, zu seinen eigenen Gedanken zurückzukehren.

    «Aber Einigkeit muss geschaffen werden. Daher brauchen wir eine große Sache, die das Volk zusammenschweißt. Im Augenblick kümmert sich doch jeder nur um sich selbst. Seit mehreren Generationen gab es keinen Krieg mehr, der die Jugend einen und zu einem Ziel führen könnte. Was wir brauchen, ist ein Krieg.»
    Albert sah mit einem Blick über ihn hinweg, den noch immer der Schwindel trübte.
    «In einem Krieg müssen viele ihr Leben lassen, nicht wahr?»
    «Tja, natürlich, das gehört zu den Unkosten des Krieges.»
    Im Tonfall des Kommandanten lag ein Zögern. Er musterte Albert prüfend. Es schien, als würde der erst jetzt auf seinen Gesprächspartner aufmerksam; der Kommandant überlegte einen Augenblick, ob er ihn falsch eingeschätzt habe.
    «Und die Toten bekommen ein Grab und ein Kreuz, nicht wahr?», fuhr Albert unbeirrt fort.
    «Sicher, sicher, das versteht sich doch von selbst.»
    Es war nun deutlich, dass Carstensen der Ansicht war, das Gespräch geriete auf Abwege.
    «Gehen Sie auf den Friedhof, Kommandant Carstensen. Sie werden dort viele Frauen und einige Kinder finden. Sie werden auch den einen oder anderen Bauern finden, einen Kaufmann oder zwei und vielleicht sogar einen Schiffsmakler wie mich. Aber Sie werden nicht sonderlich viele Seeleute finden. Sie blieben dort draußen. Sie bekommen kein Kreuz. Es gibt kein Grab, das die Witwe und die Kinder besuchen können. Sie ertrinken an fernen Orten. Das Meer ist ein Feind, der seinen Gegner nicht respektiert. Wir haben unseren eigenen Krieg hier in Marstal, Kommandant Carstensen, und mit dem haben wir genug.»
    Nun wurde ein Toast auf die Flotte ausgebracht, und der Kommandant nutzte die Gelegenheit, sich der Unterhaltung mit Albert zu entziehen, der sich selbst überlassen wieder ins Grübeln verfiel.
    In derselben Nacht wurde der Gedenkstein beschädigt. Der Bretterzaun, den man als Schutz aufgestellt hatte, solange Bildhauer Simonsen mit der Inschrift beschäftigt war, wurde von einer Gruppe betrunkener Werftarbeiter eingerissen. Albert erstattete sofort Anzeige bei Polizeimeister Krabbe in Ærøskøbing und erhielt bereits drei Tage später ein Antwortschreiben, in dem der Polizeimeister ihm mitteilte, dass die Täter
vom Polizeigericht zu insgesamt dreihundertfünfzehn Kronen Geldstrafe wegen Trunkenheit und Ruhestörung verurteilt worden seien.
     
    Je mehr sich der Tag der Enthüllung des Monuments näherte, desto größer wurde Alberts Unruhe. Glücklicherweise gab es noch sehr viel zu tun. Die Geschichte der Mole hatte er bereits detailliert festgehalten. Nun sorgte er dafür, dass man die Chronik in einem versiegelten Bleirohr in das Fundament des Gedenksteins goss. Dann begann er mit einem Prolog, den er anlässlich der Enthüllung des Steins vorlesen wollte. Er schilderte den Stein, als wäre es ein Mensch mit menschlichen Enttäuschungen und Hoffnungen, und über das Leben schrieb er, es sei ein Ort, «an dem sich Freude, Trauer und fehlgeschlagene Hoffnungen mischen, an dem vorgefertigte Pläne nicht immer zum Ziel führen».
    Er hielt inne.
    «Aber was schreibst du denn da bloß?», fragte er sich. «Du sollst die Mole und die Einigkeit feiern. Und nun hast du dich mit deiner Schreiberei selbst in Verlegenheit gebracht.»
    Er schüttelte den Kopf über sich, bevor er die Lampe am Schreibtisch löschte. Woher kamen diese Zweifel? Er selbst hatte doch keinen Grund, an seinem Lebenswerk zu zweifeln. Die Stadt blühte wie nie zuvor. Um das zu feiern, wurde der Gedenkstein doch errichtet. Es war dieses verdammte Schwindelgefühl, von dem er nun wieder heimgesucht wurde. Gefühle, Schwindel und Erscheinungen.

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