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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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war. Der Abschluss seines Leben konnte es nicht gewesen sein, denn er lebte noch einige Jahre. Aber er lebte zusehends in einer Traumwelt und nur zur Hälfte in der Realität; und die Brücke zwischen diesen beiden Welten war eine Brücke voller Schrecken. Durch Träume gelangte er an ein Wissen, das er nicht allein ertragen, aber auch mit niemandem teilen konnte.
    Er lebte mehr und mehr in einer von Toten bevölkerten Stadt und wurde zu einem stummen Mitwisser des Todes.

DIE ERSCHEINUNGEN
    W orüber schreibt ein Schiffsmakler? Über die auf- und absteigende Konjunktur des Frachtmarktes, über abgewickelte Schiffsladungen, über Schiffe, die nicht nach Hause zurückkehren, über Besatzungen, die gerettet werden, über Versicherungsfragen, über den Gewinn und das Schicksal der Firma.
    Albert schrieb in diesen Tagen nicht über seine Maklerfirma oder seine Schiffe auf See. Er schrieb auch nicht über seine Gefühle und nur selten über seine Gedanken. Doch er schrieb durchaus über das, was in seinem Kopf vor sich ging. Hauptsächlich über Dinge, die er nicht verstand.
    In seinem Kopf wohnte ein Fremder. Und er schrieb über den Fremden.
    Albert schrieb über seine Träume.
    Aber nicht über all seine Träume.
    Wie die meisten Menschen mit einer praktischen Lebenseinstellung glaubte er, Träume seien die Frucht der Lethargie eines sonst klaren Verstandes; nichts anderes als eine verwirrende Zusammenfassung von zufälligen und halb vergessenen Ereignissen, die möglicherweise einmal einen klaren Sinn ergaben, der inzwischen allerdings in der diffusen Welt der Träume verloren gegangen war. Wie wir anderen konnte auch Albert in vielen seiner Träume keinen Sinn erkennen. Er versuchte es auch nicht.
    In einer Dezembernacht im Jahr 1877, als er Kapitän auf der Princess gewesen war, hatte er plötzlich im Traum eine Stimme gehört, die ihm zurief, dass er einer Gefahr entgegensteuere. Albert war aus seiner Koje gesprungen, an Deck gerannt und hatte gesehen, dass das Schiff auf eine
große, flache Sandbank zuhielt, an der es unweigerlich Schiffbruch erlitten hätte. Der Traum hatte ihn gewarnt.
    Irgendwo in seinem Kopf gab es ein Wissen, von dem er selbst nichts ahnte. Dort drinnen wohnte ein fremder Gast.
    Zwei Jahre später hatte er einen ähnlichen Traum. Er träumte, die Princess würde in einem schweren Sturm untergehen, doch er beschloss, nichts zu unternehmen, obwohl er wusste, dass auch dieser Traum eine Warnung war. Früh am nächsten Morgen lief er in Grangemouth aus. Draußen vor dem Hafen frischte es zu einem orkanartigen Südweststurm auf. Den ganzen Tag trieb er mit seinem Schiff die Küste entlang, und schließlich musste er den Anker werfen und die Masten kappen lassen, um eine Strandung zu vermeiden. Als er sich an das krängende Deck klammerte und das Rigg über Bord gehen sah, begriff er, dass es mehr als nur eine Wirklichkeit gab.
     
    Albert verfügte über eine Gabe, die nicht alle besaßen. Und er wusste, dass er diese Gabe für sich behalten musste. Wir können es in den Aufzeichnungen nachlesen, die er uns zusammen mit anderen Papieren hinterließ. Hier notierte er, dass es ihm hätte schaden können oder zumindest sein Ruf gelitten hätte, wenn die Kunde von seinen Warnträumen allgemein bekannt geworden wäre.
    Wie oft haben wir nicht im Mannschaftslogis gesessen und den Berichten über den Klabautermann gelauscht, der mit weißem Gesicht und tropfnassem Ölzeug in den Besanwanten hängt; oder über den Fliegenden Holländer und den Schiffshund, der dort draußen jede Nacht auf der Suche nach seinem untergegangenen Schiff heult? Auch Albert hatte als Schiffsjunge mit einer Mischung aus Schreck und Faszination zugehört, doch im Innern seines Herzens war er skeptisch geblieben. Jedes übernatürliche Ereignis gründete auf einer natürlichen Ursache; die Wissenschaft hatte sie nur noch nicht entdeckt. Das war seine Meinung. Wenn wir in der Dämmerung zusammensaßen und genüsslich seufzten, erklärte er häufig, dass es noch weitaus mehr zwischen Himmel und Erde gebe.
    Hätte er damals von seiner Gabe erzählt, in seinen Träumen in die Zukunft blicken zu können, hätten die meisten von uns ohne Weiteres akzeptiert, dass er übernatürliche Fähigkeiten besaß. Sein Ruf auf den
Schiffen wäre dadurch gewachsen, möglicherweise sogar seine Autorität, doch es wäre eine mit Furcht vermengte Form der Autorität gewesen, und diese Autorität wollte er nicht. Albert war der Überzeugung, dass die

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