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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Nutzen hatte sie in einigen Jahren? Sicher, das Meer war ein Krieg, doch nun würde ein anderer Krieg beginnen, ein grausamerer und unbarmherzigerer Krieg, auf den Seemannschaft und Segelführung keine Antworten waren.
    Albert hatte nicht die Phantasie oder die politische Einsicht, um sich vorzustellen, wer diesen Krieg führen würde, und seine Träume verrieten es ihm auch nicht. Doch er dachte an die Kriegsschiffe, die er auf See, an die Torpedoboote, die er im Hafen ausgemacht hatte, an die U-Boote, von denen er gelesen, die er aber noch nie gesehen hatte. Mit welcher Schöpfung auf Erden konnte man ein Segelschiff vergleichen? Mit keiner. Es hatte seine eigene, märchenhafte Architektur. Aber die neuen, wasserfähigen Kriegsmaschinen? Waren die plumpen U-Boote nicht nach dem Bild des Hais geschaffen, erinnerten die Torpedoboote nicht an gepanzerte Amphibien? War es nicht so, als sähe die gesamte moderne Kriegsindustrie diese urzeitlichen Ungeheuer als Ideal an, die einst vor Millionen von Jahren die Erde bevölkerten und deren Knochen nun überall auftauchten?
    Er hatte genug über die Theorie des Engländers Charles Darwin von der Entwicklung der Arten gehört, um zu wissen, dass das Leben sich vorwärts entwickelte, nicht zurück. Aber strebten die Menschen mit diesen Kriegsmaschinen nicht gerade das Gegenteil an: Versuchten sie nicht gerade, zu den brutalen und primitiven Lebensformen früherer, überwundener Zeiten zurückzufinden?
    Zeigten ihm seine Träume nicht eine Zukunft, in der die Menschen in den amphibischen Zustand zurückkehren und zu ihren eigenen ärgsten Feinden werden?
    Die Träume hörten nicht auf. Er sah Schoner in Flammen aufgehen. Er sah, wie sie von plötzlichen Explosionen vor dem Bug auseinandergerissen wurden und innerhalb weniger Minuten im Meer verschwanden. Er sah Männer in untergehenden Beibooten treiben. Er sah das Entsetzen
in den Gesichtern der Seeleute und hörte ihre Hilferufe, wenn sie in die Tiefe gezogen wurden. Schließlich sah er nur noch das Meer und die Wellen. Lange Zeit schien es, als würde er selbst in ihnen treiben, ganz allein unter einem bedeckten Himmel auf dem eisengrauen Meer. Er dachte, so muss die Welt kurz vor ihrer Erschaffung ausgesehen haben, noch bevor das Leben entstand.
     
    Albert begann, Listen der Schiffe anzulegen, die er in seinen Träumen untergehen sah. Auch die Namen der Toten notierte er, wenn er ein Gesicht erkannte. Er schrieb es auf die linke Seite des Papiers. Die rechte Seite ließ er leer. Sie war reserviert für den Tag, an dem sich seine Träume zu erfüllen begannen. Er benutzte Rechnungsbücher aus dem Maklerkontor und dachte, dass dies die merkwürdigste Buchführung war, die jemals in einem Kontorbuch festgehalten wurde. Und er war der sonderbarste Buchhalter, denn er akzeptierte eine Traumwelt, als besäße sie die gleiche Eindeutigkeit wie die Wirklichkeit.
     
    Albert war ein kräftig gebauter Mann mit einem kurz geschnittenen Vollbart und einer Haarpracht, der das Alter nichts hatte anhaben können. Viele Jahre veränderte er sich nicht. Er strahlte auch weiterhin diese kontrollierte Kraft aus. Er machte ganz sicher keinen jugendlichen Eindruck, eher einen zeitlosen, als lebte er an einem Ort, an dem das Alter seine Diktatur nicht ausübte. Doch in diesen Monaten alterte er sichtlich. Er wusste es selbst, und er wusste auch, dass die Leute darüber redeten. Er pflegte weiterhin seinen Bart und hielt sein kräftiges Haar kurz geschnitten, doch seine breiten Schultern sanken herab, und plötzlich schien er kleiner zu sein. Er blieb häufiger zu Hause und entschuldigte sich nicht, wenn er Einladungen dankend ablehnte. Die Leute sollten denken, was sie wollten. Besonders schwer fiel es ihm, mit den Männern umzugehen, die er auf See hatte sterben sehen. Wie konnten sie ihr Leben so leichtnehmen, wenn sie doch ein so furchtbares Schicksal erwartete?
    Wie konnte Kapitän Eriksen ihn in der Prinsegade aufhalten, als er gerade sein Kontor verließ, und über nichts anderes schwatzen als über den Frachtmarkt und den Schlickbagger, der draußen vor dem Hafen lag und die Untiefe Klørdybet vertiefte? Wusste er denn nicht, dass seine Tage gezählt waren?

    Kurz angebunden grüßte Albert und verschwand in Richtung Havnegade. Dann bereute er seine brüske Art. Die Leute würden bald anfangen, ihn als sonderbar zu bezeichnen. Was sollte er machen? Eriksen umarmen und über ihn weinen? Ihn warnen? Ja, aber wovor? Vor dem Meer, dem

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