Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
Räder kreischten protestierend, als würde der Wagen unter dem gewaltigen Gezerre in Stücke gerissen. Eine gefährliche Situation entstand, als sie ein wenig von der Straße abkamen und der Stein wackelte, aber liegen blieb. Wieder wurde der Shanty angestimmt, erst jetzt hörte Albert die Worte:
    «I will drink whisky hot and strong.
Whisky, Johnny!
I will drink whisky all day long.
Whisky for me, Johnny!»
    Die kleinen Jungen johlten begeistert mit. Ein Versprechen von Männlichkeit lag in den Worten. Die Navigatoren sangen vor. Sie hatten lange genug auf See zugebracht, um sich als voll befahren zu fühlen. Der Song gehörte ihnen. Ihre Jahre auf See bestätigten ihr Eigentumsrecht daran.
Für die Alten war er eine Erinnerung, und Albert wusste, dass es hier nur wenige gab, die nicht irgendwann einmal in ihrem Leben ein Segel gesetzt hatten oder mit einem Ankerspill zu den Tönen des Whiskysongs im Kreis gegangen waren. Es ist die Nationalhymne der Seeleute, dachte Albert. In welcher Sprache der Shanty gesungen wurde, spielte keine Rolle. Der Rhythmus war seine Botschaft, und von den Muskeln ging er ins Herz und erinnerte die Männer daran, was sie konnten; er ließ sie ihre Müdigkeit vergessen und gemeinsam weiterschuften.
    «Einigkeit macht stark» sollte auf seinem Stein stehen, aber in einem Moment der Heiterkeit, der bei der anstrengenden Arbeit aufblitzte, wusste er, dass auch «Whisky, Johnny!» auf ihm hätte stehen können, wenn es nur nicht so unpassend gewesen wäre. Es war der Gesang der Einigkeit, den er vernahm.
    Er reckte sein rotfleckiges, schweißnasses Gesicht in die Sonne und lächelte.
    Der Stein hatte sein Ziel erreicht.
     
    Albert hatte im Hotel Ærø viele Bürgerversammlungen über den Gedenkstein oder den Einigkeitsstein, wie er ihn in Gedanken nannte, abgehalten. Er musste schließlich finanziert werden, und das sollte in der gleichen Weise geschehen, wie alles Große und Wesentliche in Marstal finanziert wurde: gemeinschaftlich, durch viele kleine Beiträge. Wenn er am Rednerpult stand und sich warm geredet hatte, vergaß er vor Glück, dass er etwas Wichtiges niemals erklärte. Welchen Anlass gab es eigentlich, gerade jetzt einen Gedenkstein zu errichten? Der fünfundsiebzigste Jahrestag der Grundsteinlegung der Mole fiel exakt in das Jahr der Jahrhundertwende, doch da hatte niemand die Initiative ergriffen. Bis zum hundertsten Jahrestag waren es noch zwölf Jahre. Er konnte nicht damit rechnen, dann noch am Leben zu sein. Einundachtzig Jahre alt wäre er dann, aber er war kein hochmütiger Mensch, der glaubte, ewig zu leben. Warum jetzt? Warum im Jahr 1913?
    Glücklicherweise stellte ihm nie jemand diese Frage. Selbstverständlich, sagten alle, als er zum ersten Mal darüber sprach. Einen Gedenkstein brauchte die Stadt, und was war erinnerungswürdiger als die Errichtung der Mole? So entging er den Erklärungen über einen Tag im Juni, an dem ihm auf dem Meer südlich der Halbinsel schwindlig geworden
war und er Vorahnungen hatte, deren Bedeutung ihm selbst nicht klar war. So etwas konnte man von einem Rednerpult aus nicht sagen. Ja, so etwas konnte man jemandem nicht einmal unter vier Augen erzählen, jedenfalls nicht als Begründung, warum man zweihundertdreißig Mann einen vierzehn Tonnen schweren Stein ziehen ließ.
    Warum jetzt, warum im Jahr 1913?
    Bevor es zu spät ist, bevor wir vergessen, wer wir sind und warum wir das tun, was wir tun.
    Zu spät? Was meinst du?
    Nein, er konnte die Frage selbst nicht beantworten. Und doch verspürte er eine Ahnung des Untergangs. Um sie zu betäuben, nahm er sich so energisch der Aufgabe an, den Stein zu errichten.
    Vom Rednerpult im Festsaal des Hotels Ærø aus rief er wieder und wieder die Tatsachen in Erinnerung. Er beschrieb, wie der Hafen sich früher offen dem Wind aus Norden und Osten präsentiert hatte, ja sogar aus Süden, wo die Landenge, die wir die Halbinsel nannten, häufig vom Meer durchbrochen wurde. Er beschrieb, wie die Schiffe sogar im Winterhafen an Land geschlagen wurden. Schließlich wären sie alle vom Ruin bedroht gewesen, wenn man den Hafen nicht verbessert hätte; und damals war ein Mann vorgetreten – betrachtet ihn ruhig als den eigentlichen Gründer der Stadt, wie wir sie heute kennen, obwohl er nicht an Land, sondern mitten im Wasser baute. Er war der Begründer der Einigkeit, dieser Kraft, der nun ein Gedenkstein errichtet werden soll. Kapitän Rasmus Jepsen war sein Name. Er forderte die Einwohner der

Weitere Kostenlose Bücher