Wir Ertrunkenen
Phantastereien hingibt und es nötig hat, sich interessant zu machen.»
Er richtete sich auf und breitete verzweifelt die Arme aus.
«Ich habe den Krieg gesehen, Frau Rasmussen. All diese Todesfälle. Ich sitze den Witwen gegenüber und sehe ihre fragenden Blicke. Wie starb mein Erik oder Peter? Ich weiß es. Ich könnte antworten. Und kann es doch nicht. Man fühlt sich so ohnmächtig dabei. Ohnmacht, ja, das ist es, was ich fühle. Ich bin ein Zuschauer in meinen Träumen und im wachen Leben. Tag und Nacht stehe ich Leiden und Trauer gegenüber, und meine eigene Situation ist die ganze Zeit über unverändert. Ich kann einfach nichts tun.»
Ihre Hand lag noch immer in seiner.
Sie blieben noch eine Weile sitzen, ohne etwas zu sagen. Dann zog sie ihre Hand zurück und erhob sich.
«Kommen Sie, Kapitän Madsen, wir müssen nun unsere Besuche machen.»
Auf dem Weg durch die Kirche wandte sie sich an ihn.
«Ich glaube an Ihre Träume. Aber ich möchte sie nicht hören. Ich ziehe es vor, in Unwissenheit darüber zu leben, welche Pläne Gott mit uns hat.»
Eine Weile behielten sie ihre Treffen in der Kirche bei. Sie setzten sich nun nebeneinander. Manchmal schwiegen sie und hingen den eigenen Gedanken nach. Meist führten sie aber ein flüsterndes Gespräch. Sie berührten sich nicht. Ihre Hand in seiner war ein Zeichen des Einverständnisses gewesen. Sie musste es nicht wiederholen. Nun hatte er es und wusste es.
Es wurde Dezember, und in der Dämmerung schien sich die feuchte Winterkälte in dem ungeheizten Kirchenraum zu konzentrieren.
«Wir sitzen hier und frieren», sagte sie, «lassen Sie uns zu mir gehen und Kaffee trinken.»
Er sah sich um, als sie in die Stube des Hauses in der Teglgade traten. Einige von Rasmussens Gemälden hingen an der Wand. Albert wusste, dass Anna Egidia Rasmussen die meisten verkauft hatte, einige schien sie also doch behalten zu haben. Eines zeigte das Porträt eines kleinen grönländischen Mädchens. Rasmussen war als einer der ersten dänischen Maler in die Eiseinöde gezogen, doch das Porträt war kein typisches Motiv für ihn. Er beschäftigte sich überwiegend mit dem Meer und den Schiffen, er hatte sich als Marinemaler einen Namen gemacht. Das andere Bild zeigte einen mit einem Umhang bekleideten Mann, der in betender Position im Wüstensand kniete. Im Hintergrund sah man eine Frau und einen Esel. Das Gesicht des Mannes war seltsam undeutlich, als ob das Bild noch nicht fertig wäre oder Rasmussens Fähigkeiten als Porträtmaler nicht ausgereicht hätten.
«Es ist die Flucht aus Ägypten», erklärte die Witwe, die mit der Kaffeekanne hereinkam.
Albert nickte höflich. Das hätte sie ihm nicht zu erklären brauchen. Obwohl er nicht gläubig war, kannte er doch seine Bibel.
«Eigentlich geschah es ja nicht oft, dass er sich von Motiven der Bibel inspirieren ließ. Es war schade. Ich glaube, dass sie ihn zu etwas Neuem
hätte anregen können. Aber zuletzt wollte ihm nichts Richtiges mehr gelingen. Jedenfalls war er selbst so unzufrieden, so unzufrieden. Er war ein geplagter Mensch. Sie müssen nicht glauben, dass ich ihn nicht so sehen konnte, wie er tatsächlich war.»
Albert hatte den ein paar Jahre älteren Maler zum ersten Mal getroffen, als er selbst noch ein großer Junge war. Carl Rasmussen hatte damals einen unauslöschlichen Eindruck bei ihm hinterlassen, nicht nur aufgrund seines außergewöhnlichen Zeichentalents, sondern auch wegen seiner eigentümlichen Unschuld. Er stammte aus der Nachbarstadt Ærøskøbing, und als er das erste Mal in Marstal auftauchte, wurde er sofort von einer feindseligen Schar Jungen umringt. Er war ein Fremder, und das sollte er zu spüren bekommen. Doch irgendetwas Unerklärliches hielt sie zurück. Er machte den Eindruck, als wäre er sich überhaupt nicht darüber im Klaren, dass er Gefahr lief, verprügelt zu werden. Stattdessen freundete er sich mit den ungehobelten Burschen an. Einen langen Sommer hatten sie zusammen die Insel erkundet. Carl fertigte, umgeben von einer Schar Bewunderer, seine Skizzen an und las ihnen auch vor. Sie entdeckten in sich einen Hunger nach etwas anderem als der trockenen Paukerei in Isagers Stunden. Albert erinnerte sich noch immer an den Eindruck, den die Odyssee mit ihrem Bericht über Telemachos auf ihn gemacht hatte, der zwanzig Jahre auf seinen Vater wartete und nie daran zweifelte, dass er noch lebte. Damals wurde möglicherweise die Richtung seines Lebens bestimmt.
Irgendwann war es zu
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