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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Sie, wie oft hat er seinen Vater gesehen, wenn er das Elternhaus verlässt?»
    Er hörte die Beharrlichkeit in ihrer Stimme und verstand, dass sie keine Frage gestellt hatte. Sie wollte auf einen bestimmten Punkt hinaus, und er hatte ihr einfach zu folgen.
    «Ich werde es Ihnen sagen, Kapitän Madsen. Der Vater war wahrscheinlich ungefähr jedes zweite Jahr zu Hause, aber jedes Mal nur ein paar Monate. Wenn der Junge dann als Vierzehnjähriger selbst zur See geht, hat er seinen Vater siebenmal gesehen, insgesamt höchstens anderthalb Jahre. Sie nennen Marstal die Stadt der Seeleute, aber wissen Sie, wie ich die Stadt nenne? Ich nenne sie die Stadt der Ehefrauen. Es sind
die Frauen, die sie bewohnen. Die Männer sind hier nur zu Besuch. Haben Sie je in das Gesicht eines kleinen zweijährigen Knirpses gesehen, der an der Hand seines Vaters die Straße entlangstolpert? Er sieht zu seinem Vater auf, und es ist so bedauerlich klar, was in dem kleinen Kopf vor sich geht. Wer ist dieser Mann?, fragt er sich. Und wenn er sich an den Vater, der ihm plötzlich geschenkt wurde, gewöhnt hat, zieht dieser wieder fort. Zwei Jahre später kann sich die ganze Geschichte wiederholen. Jetzt ist der Junge vier Jahre alt. Sogar die liebevollsten Erinnerungen an einen Vater sind verblasst, und auch der Vater muss sich an einen Jungen gewöhnen, den er kaum wiedererkennt. Zwei Jahre sind eine Ewigkeit im Leben eines Kindes, Kapitän Madsen. Was ist das für ein Leben?»
    Albert schwieg. Er trank seinen Kaffee und aß noch ein Vanillekränzchen. Sein eigener Vater hatte ihn in einer Weise im Stich gelassen, die er ihm nie verzeihen konnte. Dennoch begriff er, dass er die Abwesenheit der Väter immer als naturgegeben hingenommen hatte, obwohl Männer in anderen Berufen nicht jedes Jahr aufs Neue ihr Heim verließen.
    «Ja, was ist das für ein Leben?», wiederholte die Witwe. «Für einen Vater, der seine Kinder kaum kennt, für die Kinder, die vaterlos aufwachsen, obwohl der Vater doch irgendwo dort draußen auf der anderen Seite des Erdballs am Leben ist, für die Mutter, die den größten Teil der Zeit die Verantwortung allein zu tragen hat und darüber hinaus in ständiger Angst vor der Nachricht lebt, dass das Schiff als vermisst gemeldet wird. Sollte sie denn nicht versuchen, ihre Kinder zu überreden, den Seemannsberuf nicht zu ergreifen? Wir haben elektrisches Licht, Telegrafen und kohlebetriebene Dampfer, warum sollen nur die Kinder und die Frauen vom Fortschritt ausgeschlossen bleiben und wie im vorigen Jahrhundert leben? Sie glauben an den Fortschritt, Kapitän Madsen. Wieso können Sie nicht auch diese Entwicklung willkommen heißen? Weil sie die Welt verändert, die Sie so gut kennen? Aber das ist doch, wenn ich es richtig verstanden habe, die Natur des Fortschritts: Die Welt wird dadurch nicht nur ständig besser, sondern sie ist auch nicht mehr wiederzuerkennen.»
    Albert war nie Vater geworden. Ein richtiges lebendiges Kind, einen Jungen, der ihn, sobald er zu sprechen gelernt hatte, Vater nannte, hatte er nie auf dem Arm gehalten. Hier konnte er überhaupt nicht mitreden.
Bisweilen hatte er das Gefühl, dass seinem Leben dadurch etwas fehlte, dennoch bereute er es nicht. So war sein Leben eben verlaufen.
    Als er an Land ging, war es zu spät. Fünfzig Jahre, das war kein Alter, um eine Familie zu gründen. Wen konnte man auch noch in diesem Alter bekommen, höchstens eine übrig gebliebene Jungfer, womöglich mit einer Behinderung? Eine Witwe, ja sicher, davon gab es genug. Heiratswillig waren sie auch, allerdings eher aus praktischen Gründen. Aber mit ihren vertrockneten Schößen und welken Brüsten waren sie wohl kaum noch imstande, Kinder zu kriegen. Und ein junges Mädchen mit einem alten Stiesel wie ihm zu belasten war ebenfalls nicht sonderlich aussichtsreich.
    So redete er manchmal mit uns, in hingeworfenen, etwas verächtlichen Wendungen, die so aufschlussreich sind für jemanden, der zuzuhören versteht.
    «Na ja, ich kann da nicht wirklich mitreden. Ich habe ja nie Kinder gehabt», antwortete er der Witwe.
    Er nahm noch ein Vanillekränzchen.
    «Eigentlich ist es seltsam, denn mich hat die Familie immer sehr beschäftigt. Aber ich habe versäumt, mich um meine eigene Nachkommenschaft zu kümmern.»
    «Ich habe es nie verstanden, Kapitän Madsen. Sie hätten heiraten sollen.»
    Die Witwe wusste nichts von der Chinesin.
    «Trotz meiner langen Reisen?», fragte er ironisch.
    «Das sind nun mal die Umstände. Sie

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