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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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in ihm ausbreitete. Und er tat etwas, was er geschworen hatte, niemals zu tun, wenn er den Hinterbliebenen gegenübersaß.
    Er begann, über den Krieg zu sinnieren.
    «Er nimmt kein Ende, solange jemand einen Vorteil daraus zieht, wenn er fortgesetzt wird.»
    «Wie sollte jemand einen Vorteil aus diesem Grauen und dem Tod ziehen?»
    «Gehen Sie durch die Kirkestræde. Schauen Sie sich die Läden an. Die Stadt blüht wie nie zuvor.»
    «Das meinen Sie doch nicht im Ernst, Kapitän Madsen, dass die Einwohner einer kleinen Stadt wie Marstal die gewaltigste Kriegsmaschinerie der Geschichte in Betrieb halten? Sehen Sie denn nicht all die Trauer, die dieser Krieg der Stadt gebracht hat? Das müssen Sie doch sehen. Genau wie ich überbringen Sie doch in diesen Zeiten beinahe wöchentlich eine Todesnachricht.»
    «Ja, Frau Rasmussen, ich sehe all diese Trauer. Sie sehen sie, und ich sehe sie, weil wir uns in den Kammern des Todes aufhalten. Die anderen stehen vor den Ladenschaufenstern und glotzen. Es liegt in der menschlichen Natur, dass wir am liebsten das goldene Kalb anbeten, und das ist die wichtigste Ursache für den augenblicklichen Krieg.»
    «Ich verstehe nichts von Politik», entgegnete sie und schaute auf den Boden. «Ich bin nur eine alte Frau, die zu lange gelebt hat.»
    «Sie sind doch acht Jahre jünger als ich, soweit ich weiß.»
    «Ja, das ist sicher richtig. Aber als Witwe …»
    Sie hielt inne, zu verlegen, um fortzufahren.
    «Ja», sagte er abwartend.

    «Als Witwe hat man nicht länger sein eigenes Leben. Man lebt durch die anderen. Es ist, als gehörte man mit einem Schlag zu den Alten. Ich habe mich alt gefühlt, seit Carl starb, und das ist jetzt bereits vierundzwanzig Jahre her.»
    «Ich habe bemerkt, dass Sie häufig hierherkommen. Wahrscheinlich denken Sie an ihn.»
    «Ich komme aus dem gleichen Grund wie Sie, Kapitän Madsen. Um an den Erlöser zu denken.»
    Sie sah ihn einen Augenblick prüfend an.
    «Nun ja, Sie sind doch gläubig, oder?»
    «Ich war gläubig», antwortete er, «aber es war nicht der Heiland, an den ich geglaubt habe. Ich glaubte an andere Dinge. Ich glaubte an diese Stadt und die Kräfte, die sie erbaut haben. Ich glaubte an die Einigkeit und die Gemeinschaft der Menschen. Ich glaubte an so viele Dinge, an das Aktive und Strebsame im Leben. Aber ich fürchte, nun bin ich ein Abtrünniger. Auch ich habe das Gefühl, zu lange gelebt zu haben. Ich verstehe diese Welt nicht mehr, die ich um mich herum sehe.»
    «Sie klingen wie ein unglücklicher Mensch, Kapitän Madsen. Auch ich verstehe die Welt nicht. Aber das habe ich wohl nie getan. Dennoch glaube ich.»
    «Vielleicht glauben Sie ja gerade deshalb.»
    «Was meinen Sie?»
    «Sie sagen doch selbst, dass Sie die Welt nicht verstehen. Vermutlich müssen Sie daher glauben. Der Glaube ist ja ein Mysterium. Doch er ist kein Mysterium, an dem ich teilhabe. Ich weiß nicht, ob es da eine Grenze in mir gibt.»
    Er sah sie fragend an, als ob er eine Antwort erwartete. Er spürte, dass er dabei war, sich an diese Frau auszuliefern. Es erschreckte ihn nicht. Sie hatte so etwas Verständnisvolles und Mildes an sich, und er hatte nichts mehr zu verlieren.
    «Ich habe diese Träume», hörte er sich sagen.
    Das Bedürfnis, sich anzuvertrauen, war offenkundig.
    «Welche Träume?»
    Er hielt einen Moment inne. Dann nahm er die Hürde.
    «Die ertrunkenen Seeleute», sagte er. «Ich sehe, wie sie ertrinken. Ich
sehe sie jede Nacht. Es ist, als wäre ich dabei. Ich sehe es, lange bevor es passiert. Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie mich fragen, wer hier in Marstal noch sterben wird. Ich werde Ihnen die Namen von jedem Einzelnen nennen.»
    Sie blickte ihn an, als hätte sie nicht verstanden, was er sagte. Er konnte jetzt nicht aufhören.
    «Jahrelang bin ich in dieser Stadt wie ein Fremder umhergegangen. Ich fühle mich wie ein Abgesandter des Totenreichs. Der Klabautermann – das bin ich.»
    Er unterbrach sich und schaute sie hilfesuchend an. Verstand sie überhaupt, wovon er sprach?
    Eine ganze Weile schwieg sie. Dann nahm sie seine Hand.
    «Sie müssen sich ja schrecklich fühlen», sagte sie. «Das ist mehr, als ein Mensch ertragen kann.»
    Einen Augenblick fürchtete er, dass sie anfangen würde, vom Erlöser zu reden. Aber das tat sie nicht.
    «Dann glauben Sie mir also, dass ich diese besonderen Fähigkeiten habe?»
    «Wenn Sie es sagen, Kapitän Madsen, dann glaube ich es Ihnen. Ich habe Sie nie für einen Mann gehalten, der sich

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