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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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hätten sich als Ehemann trotzdem bewährt. Sie besitzen Verantwortungsgefühl und Weitblick. Diese Eigenschaften sind nicht so verbreitet, wie man meinen sollte. Kinder sind ein großes Geschenk. Sie haben es abgelehnt. Das hätten Sie nicht tun sollen.»
    «Und das sagen Sie, die doch wieder und wieder erleben musste, wie Ihnen dieses Geschenk genommen wurde?»
    Sie senkte den Blick.
    «Noch eine Tasse Kaffee?», fragte sie.
    Er nickte und spürte, dass er möglicherweise zu weit gegangen war mit der Anspielung auf die vielen Kinder, die sie verloren hatte. Er führte die Porzellantasse zum Mund und musterte sie durch den Dampf des heißen Kaffees.

    Sie schaute auf und begegnete seinem Blick.
    «Nein, Kapitän Madsen, man bereut kein Kind, nur weil man es wieder verliert. Das ist kein Handel, den man mit dem Leben eingeht, wenn man ein Kind bekommt. Wie ich sagte: Ein Kind ist ein Geschenk. Und das, was in einem bleibt, wenn es fort ist, sind die Erinnerungen an die Jahre, die es leben durfte. Nicht an den Tod.»
    Sie hielt inne, und er bemerkte ihre Rührung. Er wollte gern tun, was sie für ihn an dem Tag in der Kirchenbank getan hatte, und seine Hand auf ihre legen. Aber dazu hätte er aufstehen und um den Tisch herumgehen müssen. Er fühlte sich unbeholfen und verlegen, und dann war es zu spät, um irgendetwas zu tun. Er blieb sitzen und schwieg. Man konnte es für Respekt halten, aber er wusste, dass es aus reiner Hilflosigkeit geschah.
    «Ich habe gelernt, mich zu fügen.»
    Sie sah ihn direkt an.
    «Ich glaube, Gott hat eine Meinung zu allem, was geschieht. Würde ich das nicht glauben, hätte ich es nicht durchgestanden. Ich habe meinen Jesus.»
    Wieder wusste er nicht, was er sagen sollte. Er spürte die Kluft zwischen ihnen und überlegte, ob ihre so verschiedenen Ansichten möglicherweise etwas mit dem Unterschied zwischen Mann und Frau zu tun hatten. Irgendetwas in ihr war ihm unbegreiflich, und aus eigener Kraft konnte er nicht bis dahin vordringen. Er musste in allem nach dem Sinn suchen, und es regte ihn auf, wenn er ihn nicht fand. Sie war mit dem Leben einverstanden, selbst wenn es sie in seiner härtesten Form traf, dem Tod eines Kindes. Es gab eine Stärke in ihr, die er nicht kannte. Vielleicht hatte er diese Form der Stärke aber auch nie gebraucht, obwohl er doch das Gefühl hatte, dass seine Träume ihm eine unmenschliche Bürde auferlegten. Ihm war immer klar gewesen, dass er Carl Rasmussens Witwe respektierte, nun wurde ihm bewusst, dass er sie auch bewunderte. Gleichzeitig allerdings rebellierte etwas in ihm gegen ihre Sicht des Lebens.
    Erneut herrschte Schweigen zwischen ihnen, und wieder war sie es, die es brach.
    «Ich habe doch noch immer viele Kinder um mich. Es gibt die Enkel – und dann die Kinder hier im Viertel.»
    «Ja, ich weiß, dass Sie einspringen, wenn eine Familie in Not gerät.»

    «Ich nehme hin und wieder für eine gewisse Zeit ein Kind bei mir auf. Ich möchte das Gefühl haben, nützlich zu sein. Wenn ich dieses Gefühl der Nützlichkeit nicht hätte, könnte ich nicht leben, glaube ich.»
    Wieder schaute sie ihm direkt ins Gesicht. «Fühlen Sie sich nützlich, Kapitän Madsen?»
    «Nützlich?», wiederholte er. «Ob ich das Gefühl habe, nützlich zu sein? Ich weiß es nicht. Meine Träume kann ich ja niemandem erzählen. Sogar Sie fühlen sich ja abgestoßen …»
    Er schwieg einen Augenblick. Wieder hatte er das Gefühl, zu weit zu gehen. Es war ungerecht, der Witwe etwas vorzuwerfen. Sie hatte ihm zumindest zugehört und war nicht davongelaufen wie der Idiot Anders Nørre. Es sah sie mit einem entschuldigenden Blick an. Ruhig erwiderte sie ihn.
    «Vergeben Sie mir», sagte er. «Das war ein ungerechter Vorwurf. Es ist Ihr gutes Recht, sich meine Träume nicht anhören zu wollen. Wer sollte sich auch schon an ihnen erfreuen? Schlimmer ist wohl, dass die Erfahrung eines langen Lebens auf See heutzutage auch niemanden mehr zu interessieren scheint. Ja, ich fühle mich unnütz. Wir sprachen neulich in der Kirche darüber, über das Gefühl, zu lange gelebt zu haben. Wenn man niemandes Freude mehr ist, dann hat man wohl zu lange gelebt.»
    «Niemand von uns ist überflüssig, Kapitän Madsen.»
    «Nun ja, aber Sie sagten doch selbst …»
    «Ich gebe zu, dass ich hin und wieder ein wenig pessimistisch klinge. Immer wenn ich an diese endlos lange Zeit der Trennung von meinem Carl denke, kommt es schon vor, dass ich das Gefühl habe, schon zu lange am Leben zu sein.

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