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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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ab in die Küche mit dir!»
    Der Junge verschwand mit gesenktem Kopf. Klara Friis drehte sich zu Albert um. Er war aufgestanden.
    «Ich gehe jetzt wohl besser.»
    «Sie müssen nicht gehen», sagte sie. Ihre Stimme klang plötzlich sehr besorgt.
    Albert blieb stehen.
    «Sie dürfen nicht zu hart mit ihm sein», meinte er.
    Sie erhob sich von ihrem Stuhl und kam auf ihn zu.
    «Sie dürfen das nicht missverstehen … ich wollte nicht …»
    Sie stockte und stand einen Moment ratlos und mit flackerndem Blick da. Dann weiteten sich ihre Augen und wurden rot. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie trat einen Schritt vor und stand ganz dicht
bei ihm. Dann legte sie die Stirn an seine Brust. Unter seiner Hand zitterte ihre Schulter.
    «Entschuldigung», sagte sie mit bebender Stimme. Er hörte, wie sie schluckte, um ein aufsteigendes Schluchzen zu unterdrücken.
    «Es ist nur so … schwer.»
    Er ließ die Hand auf ihrer Schulter liegen und hoffte, dass das Gewicht seiner Hand sie in irgendeiner Weise beruhigen würde. Sie rührte sich nicht von der Stelle und ließ ihren Tränen freien Lauf. Er spürte die Wärme ihres Körpers. Mit beiden Händen hielt sie das Revers seiner Jacke, als fürchtete sie, weggestoßen zu werden. Er war ein gutes Stück größer als sie, und sie verschwand an seinem massigen Brustkorb. Das ungewohnte Gefühl, ein Mann zu sein, der einer Frau gegenüberstand, stieg in ihm auf.
    Er klopfte ihr ungelenk auf den Rücken.
    «Na, na», sagte er, «setzen Sie sich doch wieder. Und nehmen Sie noch eine Tasse Kaffee, Sie werden sehen …»
    Er nahm sie sanft bei den Schultern und führte sie zurück zu dem Stuhl, den sie einen Augenblick zuvor verlassen hatte. Sie sank vornüber und begrub ihr Gesicht in den Händen. Er goss ihr eine Tasse Kaffee ein und reichte sie ihr. Von einer plötzlichen Zärtlichkeit gepackt, strich er ihr übers Haar. Sie sah auf, doch anstatt der angebotenen Tasse ergriff sie mit beiden Händen seine freie Hand und blickte ihn flehend an.
    «Knud Erik braucht Sie so sehr. Sie wissen überhaupt nicht, was das für ihn bedeutet – für uns. Ich weiß nicht … »
    Wieder stockte sie, und Albert nutzte die Gelegenheit, um seine Hand zu befreien. Er setzte sich ihr gegenüber.
    «Glauben Sie mir, Frau Friis», sagte er, «ich verstehe Sie gut. Ich weiß, wie schwer Ihre Situation ist. Ich werde alles tun, was ich kann, um Ihnen zu helfen.»
    Die letzten Worte überraschten ihn selbst. Er hatte immer scharf zwischen dem Jungen und seiner Mutter getrennt. Er hatte sich für den Jungen eingesetzt. Nun fiel eine Barriere.
    Sie hatte ein Taschentuch hervorgezogen und trocknete sich die Tränen. Ihre Stimme klang rau.
    «So ist es nicht», sagte sie, «wir kommen ja zurecht. Es ist nur …» Sie hielt inne und kämpfte erneut mit den Tränen.

    «Es ist so schwer …»
    Tränen rollten ihr über die Wangen. Die Hand mit dem Taschentuch lag im Schoß. Sie hatte es vergessen.
    Plötzlich stand Knud Erik in der Tür zur Küche. Seine Augen waren ängstlich aufgerissen.
    «Was hast du, Mutter?»
    Sie machte eine abwehrende Handbewegung, außerstande zu sprechen. Er lief zu ihr, und sie drückte ihr Gesicht an seine Brust. Er umarmte sie.
    «Du musst nicht traurig sein, Mutter.»
    Es klang erwachsen. Albert wurde klar, dass Knud Erik zusammen mit ihm ein Kind war, daheim bei seiner Mutter aber ein erwachsener Mann mit der Verantwortung und den Pflichten eines erwachsenen Mannes.
    «Ich gehe jetzt», sagte er leise.
    Keiner von beiden blickte auf.
    Als er die Tür hinter sich schloss, hörte er Knud Eriks Stimme.
    «Ich verspreche es, Mutter, ich verspreche es. Ich werde bestimmt kein Seemann.»

    Wenn das Wetter für ihre Spaziergänge zu schlecht war, machten sie Besuche. Albert war in den letzten Jahren sonderbar geworden und hatte sich zurückgezogen. Nun sahen wir ihn überall. Sie klopften bei Christian Aaberg. Als der Kapitän, der ungefähr Mitte fünfzig war, die Tür öffnete, stellte Albert den Jungen vor.
    «Das ist Knud Erik, er möchte gern etwas über Afrika hören.»
    Der Junge verbeugte sich und gab die Hand, doch er blieb nicht mehr länger mit gesenktem Kopf stehen, als hätte jemand vergessen, ihn aufzuziehen. Stattdessen ging er ohne Umschweife mit ins Wohnzimmer. Der Kapitän erzählte von damals, als er Afrika durchquerte und über zweiundzwanzig Neger auf einem Boot auf dem Tanganjikasee geherrscht hatte.
    «Willst du meinen Negerspeer sehen?», fragte er

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