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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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dass du ins Wasser gefallen bist.»
    «Aber da war doch nichts.»
    «Nichts! Du hättest ertrinken können. Warum hast du es nicht erzählt?»

    Knud Erik kniff die Lippen zusammen.
    «Hat Kapitän Madsen gesagt, dass du es nicht erzählen darfst? Antworte!»
    Er blinzelte und schaute weg. Eine Träne lief ihm über die Wange. Er schob die Unterlippe vor und schluckte.
    Dann nickte er.
     
    Als Albert eine Stunde später erschien, empfing Klara ihn mit Edith auf dem Arm.
    «Was willst du?», fragte sie, ohne seinen Gruß zu erwidern.
    Ihre Stimme klang scharf, und ihr Blick funkelte vor Zorn, und dieser Zorn gab ihrer Weiblichkeit etwas Animalisches.
    Ein Muttertier, das seine Jungen verteidigt, dachte Albert und begriff sofort, dass er wohl draußen bleiben musste. Sie stand in der Tür, um ihm den Zutritt zum Haus zu verwehren. Er sollte keine Gelegenheit bekommen, seine Autorität auszuspielen. Er sollte auf der Straße stehen und der Erniedrigte sein.
    Knud Erik tauchte neben ihr auf.
    «Rein mit dir!», sagte sie im Befehlston.
    Der Junge verschwand im Haus. Sie wandte sich wieder Albert zu und warf den Kopf zurück. Als ob sie mir einen Kopfstoß versetzen will, dachte Albert und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
    «Ich verstehe nicht …», begann er.
    «Was verstehst du nicht?»
    Ihr Ton war herrisch, als ob sie noch immer mit dem Jungen sprechen würde.
    «Ich verstehe, dass du wütend auf mich bist, aber ich verstehe nicht, warum.»
    «Du verstehst nicht, warum?»
    Die Wut in ihrer Stimme steigerte sich.
    «Sieh dir dieses Kind an, sieh es dir genau an. Du sollst mich und mein Kind ansehen. Dieses Kind, das niemals seinen Vater kennengelernt hat.»
    Sie sprach noch immer laut. Edith erschrak und begann zu heulen. Sie wand sich auf dem Arm der Mutter, um herunterzukommen. Dann streckte sie ihre kleinen Arme Albert entgegen.

    «Papa», sagte sie.
    Klaras Wut hielt an.
    «Du willst Knud Erik zum Seemann machen. Er soll dort draußen ertrinken wie sein Vater! Das willst du doch, stimmt’s? Er soll werden wie sein Vater, wie du, wie diese ganze verdammte Stadt, auf See ertrinken wie ein richtiger Mann.»
    Sie sprach das letzte Wort mit spöttisch verzerrter Stimme aus.
    «Aber der Krieg ist doch vorbei», entgegnete er beschwichtigend.
    Er kannte den Vorwurf, er hatte ihn von ihr allerdings nie mit einer solchen Vehemenz gehört.
    «Und deshalb ertrinken keine Seeleute mehr? Gibt es keine Schiffe mehr, die untergehen? Halten jetzt plötzlich alle im Winter ein paar Tage im Wasser des Nordatlantiks durch – oder schwimmen vielleicht sogar heim nach Marstal, wenn sie das Pech haben und ihr Schiff untergeht? Wenn kein Krieg ist, ertrinkt niemand mehr? Atmen wir möglicherweise mit Kiemen? Willst du mir das etwa erzählen?»
    Er brachte kein Wort heraus bei dem Ausbruch dieser Frau, die er inzwischen beinahe für stumm gehalten hatte. Er breitete bedauernd die Arme aus. Hinter der Fensterscheibe entdeckte er das Gesicht des Jungen.
    Und als ob sie Knud Eriks starrenden Blick ahnte, rief die Mutter sofort: «Mach, dass du vom Fenster wegkommst!»
    «Frau Friis …», setzte er an.
    Er redete mit ihr wie mit einer Fremden.
    «Sei still!», brüllte sie. «Ich bin noch nicht fertig mir dir. Und jetzt höre ich auch noch aus der Stadt, dass der Junge beinahe ertrunken ist. Dass er ins Wasser gefallen ist und du ihn ruhig herausgezogen und ihm hinterher verboten hast, es mir zu sagen! Ja, das ist schön. Ich, seine eigene Mutter, muss es von anderen erfahren. Und dann diese Geschichten, mit denen du ihn vollstopfst. Sinkende Schiffe, Untergänge, Schrumpfköpfe, verrückte Abenteuer! Glaubst du, so hilft man einem Kind, das seinen Vater auf See verloren hat? Sag es mir!»
    Sie starrte ihm in die Augen. Er schlug den Blick nieder, wusste nicht, was er ihr antworten sollte. Sie hatte wahrscheinlich recht. Er sagte es laut.
    «Du hast wahrscheinlich recht», entgegnete er. «Ich verstehe nichts von Kindern.»

    «Von Kindern», wiederholte sie schnaubend. «Nein, du verstehst nichts von Kindern. So ein …»
    Sie musterte ihn von oben bis unten, während sie nach dem richtigen Wort suchte.
    «So ein Junggeselle.»
    «Ich habe doch mein Bestes getan», erklärte er. «Ich hatte gehört, dass der Junge ab und zu die Gesellschaft eines Erwachsenen braucht, also kam ich.»
    «Ja, also kamst du. Aber jetzt kannst du ebenso gut auch wieder gehen. ‹Ich will Seemann werden, wie mein ertrunkener Vater!› Ja, einen

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