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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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könnte. Dann setzte er seine Wanderung fort. Eine Stunde später stand er zum dritten Mal dort, wütend über sich selbst.
    Es war die Sehnsucht, die ihn immer wieder zurückführte. Es war die Angst, die ihn jedes Mal wieder forttrieb.
     
    Nun begann für ihn eine Zeit des Wartens. Worauf wartete er? Er wusste es nicht. Doch er hatte ein Gefühl, als ob er sich dem Ende seines Lebens näherte. Wieder betrachtete er sich im Spiegel. Wo er zuvor Beweise seiner ungeminderten Kraft gefunden hatte, sah er jetzt nur noch den Verfall des Alters. Er hatte nicht gewusst, was seinem Leben fehlte, bevor er mit Knud Erik und Klara zusammentraf. Ohne sie war sein Alter wie ein Ithaka ohne Penelope und Telemachos. Und mit ihnen? Gab es überhaupt eine Fortsetzung?
    Ein Herunterzählen hatte begonnen, das sich nicht aufhalten ließ. Er ging nicht mehr auf die Straße, solange es hell war, aus Angst, Knud Erik zu begegnen. Er wusste nicht, was er dem Jungen sagen sollte. Vor ihm zu stehen, zu sehen, wie sein Gesicht strahlte, oder, schlimmer noch, wie er sich enttäuscht abwandte, das brachte er nicht fertig.
    Am Abend, nach der letzten Mahlzeit des Tages, die er meist unberührt stehen ließ, trieb die Rastlosigkeit ihn hinaus in die Novemberdunkelheit. Wir sahen ihn durch die Straßen laufen. Eiskalte Regentropfen schlugen ihm ins Gesicht.

    Wieder stand er in der Snaregade und sah hinter den Scheiben das Licht glimmen.
     
    Die Zeit des Wartens fand ein Ende. Eines Tages stand Klara vor seiner Tür und bat, eingelassen zu werden. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Wiedersehensfreude. Es war hart und verschlossen, als hätte sie einen wichtigen Entschluss gefasst, den sie ihm nun mitteilen wollte. Er half ihr aus dem Mantel und führte sie ins Wohnzimmer. Sie setzten sich gegenüber, und sie hielt den Blick gesenkt, während sie redete. Ihre Stimme war neutral, beinahe tonlos, als würde sie nur etwas Auswendiggelerntes aufsagen.
    «Ich meine, wir müssen eine Regelung für das finden, was zwischen uns entstanden ist», begann sie und holte tief Luft.
    Die unregelmäßige Atmung war das einzige Zeichen ihres inneren Gefühlsaufruhrs, während sie sprach.
    «So kann es nicht weitergehen. Sie – ich meine du – kommst immer zu uns nach Haus. Das kann nicht richtig sein. Es werden Bemerkungen gemacht, ich bekomme Blicke zugeworfen, und ich weiß schon, was die Leute denken. Sie denken, dass ich so eine ausgehaltene Frau bin, und ich will nicht, dass die Leute so über mich denken.»
    Sie hielt inne. Die Hände, die in unnatürlicher Ruhe in ihrem Schoß gelegen und das Mechanische ihres Auftretens betont hatten, ballten sich plötzlich zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervortraten.
    «Ja, aber, liebste Klara …»
    Er streckte die Hand aus, um sie zu berühren. Aber sie erstarrte und zog sich zurück.
    «Lass mich ausreden. Es hilft nichts, wenn Sie sagen, so ist es nicht, denn so ist es, und ich weiß besser als Sie, was die Leute denken.»
    Sie blickte noch immer nicht auf, sondern studierte eingehend ihre Knöchel.
    «Ich kann so nicht leben», sagte sie. «Henning ist tot. Ich bin Witwe. Aber Knud Erik und Edith brauchen einen Vater, und wenn du es nicht wirst, so muss es ein anderer werden. So ist das.»
    Sie wechselte ständig zwischen Sie und Du. Er verstand nicht, worauf sie hinauswollte.
    «Ich bin ein alter Mann», sagte er hilflos.

    «Nicht so alt, dass wir nicht – ja, Sie wissen genau, was ich meine.»
    Er sah verlegen zu Boden.
    Sie atmete tief ein, als ob sie eine Botschaft mitzuteilen hätte, die nicht nur ungeheuerlich war, sondern auch völlig ihrer eigenen Natur widersprach.
    «Ich schlage daher vor, dass Knud Erik, Edith und ich hier einziehen und wir zwei heiraten. Damit – damit die Dinge in Ordnung kommen.»
    Plötzlich sackte sie in sich zusammen. Die geballten Fäuste öffneten sich wieder. Sie hatte ihre Botschaft verkündet. Nun ergab sie sich erschöpft ihrem Schicksal.
    Alles in ihm verkrampfte sich. Das hatte er nicht erwartet. Er ahnte, dass die Situation eine umgehende und unmissverständliche Antwort erforderte, aber ihm fiel keine solche Antwort ein.
    «Aber, lieben Sie mich denn?», fragte er.
    In diesem Augenblick gab es keinerlei Vertraulichkeit zwischen ihnen. Er sprach sie mit der gleichen pflichtschuldigen Höflichkeit an, die er gegenüber jeder anderen Fremden auch eingesetzt hätte.
    «Lieben Sie denn mich?», fragte sie in scharfem Ton zurück.
    «Ich habe dich vermisst.»
    Seine

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