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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Stimme war belegt. Mit einer Liebeserklärung konnte er nicht kommen. Und präzisere Worte fand er in dem Chaos nicht, das in seinem Inneren herrschte. Es klang, als bäte er um Gnade.
    Ein Augenblick des Schweigens folgte. Dann durchfuhr ein Zucken ihren Körper. Sie ergriff seine Hände und umklammerte sie mit ihren.
    «Ich habe dich auch vermisst.»
    Sie schluckte. Dann lehnte sie sich an ihn und ließ ihren Tränen freien Lauf. Erlöst gab sie sich ihren Gefühlen hin. Albert strich ihr mechanisch über den Rücken. Seine Lähmung war nicht verschwunden, im Gegensatz zu ihr verspürte er keine Erleichterung. Die Situation hatte sich lediglich in einer Weise verschärft, dass er das Gefühl hatte, ihr unmöglich abschlagen zu können, worum sie bat. Die Worte wurden ihm ja geradezu aufgezwungen.
    Wollte er es denn? Die Frage war ebenso unmöglich zu beantworten wie die, ob er sie liebte.
    «Dann soll es so sein», sagte er schließlich.

    Seine Stimme hatte einen beruhigenden Klang. Aber es lag ein Unterton von Resignation darin, der ihr nicht entgehen konnte.
    Sie hatte gesiegt. Doch es war für beide ein Sieg ohne Freude.
     
    Am nächsten Tag zeigten sie sich öffentlich zusammen. Sie promenierten auf der Kirkestræde. Sie hielt ihn am Arm, und er drückte den Rücken durch. Nicht aus Stolz, sondern vor allem, um an ihrer Seite nicht hinfällig zu erscheinen. Sie kam mit Knud Erik und Edith zu Besuch. Sie aßen zusammen mit ihm, aber sie blieb nicht über Nacht. Sie hatten noch nie eine Nacht miteinander verbracht, und sie taten es auch jetzt nicht. Noch immer ruhten die Augen der Stadt auf ihnen. Beide spürten, dass es hier eine Grenze gab, die sie nicht überschreiten durften. Noch waren sie nicht verheiratet.
     
    Knud Eriks Haltung zu Albert änderte sich unerwartet. Als ob ihm erst jetzt klar wurde, dass sein Vater nie wieder zurückkehren würde. Ein anderer übernahm den leeren Platz an der Seite seiner Mutter. Früher hatte er sich geradezu magnetisch zu Albert hingezogen gefühlt. Nun war es so, als ob der Magnet umgedreht worden wäre und zum gegenteiligen Effekt führte.
    Er begleitete die Mutter widerstrebend, wenn sie Albert besuchte. Und er blieb verschlossen, wenn Albert der Weg in die Snaregade führte. Als ob er jeden der beiden für sich behalten wollte.
    Als sich die Welten von Albert und seiner Mutter endlich trafen, hatte er das Gefühl, als verlöre er sein Eigentumsrecht auf sie. Nur unter vier Augen lebte die alte Vertrautheit mit Albert wieder auf.
    Albert sprach Klara nicht darauf an. Es gab so viel Ungesagtes zwischen ihnen. Das Unausgesprochene kann bisweilen die bevorzugte Sprache der Liebenden sein. Für ihn aber war es eine unbekannte Sprache, für die er kein Wörterbuch besaß. Er verspürte einen ständigen Druck, dessen Ursache er nicht kannte. Weder küssten sie sich in Knud Eriks Nähe, noch umarmten sie sich. Auch vorher hatten sie es nicht getan, doch da mussten sie ja etwas verbergen. Nun war alles öffentlich, doch noch immer taten sie es nicht, nicht einmal ein kleines vertrauliches Drücken der Hände, wenn sie sich begegneten.
    Gab es tatsächlich noch etwas anderes zwischen ihnen als diese rohe
Leidenschaft, die sich mit plötzlichen, stets heimlichen Ausbrüchen zufriedengab? Erguss, nicht Erlösung, war das etwa alles?
    Albert war mit den Konventionen der Ehe nicht vertraut, er wusste nicht, wie er den einen oder anderen Vorfall zwischen ihnen interpretieren sollte. Er hatte mit Cheng Sumei zusammengelebt. Da hatte es stets einen gewissen zurückhaltenden Respekt dem anderen gegenüber gegeben. Er hatte immer gedacht, das wäre das Chinesische an ihr. Und vielleicht das Dänische an ihm. Aber wenn sie sich gegenübersaßen und die Telegramme und Dokumente mit den Frachtraten auf dem Tisch zwischen sich ausgebreitet hatten, konnten sie plötzlich aufschauen und in ein erstauntes Lächeln verfallen, als ob sie sich zum ersten Mal sehen würden. Nie hatte sich eine Gewohnheit zwischen ihnen entwickelt.
    Sie waren vertraut. Aber Vertraulichkeit war nicht dasselbe wie Routine. In der Vertraulichkeit gab es immer eine Glut, die aufflammte.
    Er vermisste sie.
    «War sie hübsch, deine Chinesin?», fragte Klara unvermittelt.
    Die Frage verblüffte Albert. Er hatte nicht gewusst, dass sie die Gerüchte auch kannte.
    Er zuckte mit den Achseln, er mochte nicht darüber sprechen.
    «Hatte sie diese winzig kleinen Chinesinnenfüße?»
    «Nein, sie hatte keine gebundenen

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