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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Träne kullerte über seine Wange, und er zog mit einem lauten Schniefen Luft durch die Nase ein. Dann sprang er von seinem Stuhl und lief hinaus in die Küche.
    Sie schaute Albert vorwurfsvoll an, als ob er und nicht sie der Anlass für die Tränen des Jungen war.
    «Es gibt ja einige Maklerbüros in der Stadt», lenkte er ein, «ich kann ihn selbstverständlich unterbringen, wenn es so weit ist.»
    «Das wäre großartig.»
    Ihr Gesicht entspannte sich, und sie belohnte ihn mit einem Lächeln. Dann ging sie in die Küche, um Knud Erik zurückzuholen. Von draußen hörte er ihre Stimme.
    Er blieb allein zurück und wusste um das Hohle seines Versprechens.
    «Wenn es so weit ist … », wiederholte er für sich und rechnete im Kopf rasch hoch. «Wenn es so weit ist, bin ich tot.»

    Klara erwartete Alberts Besuch, als es plötzlich an der Tür klopfte. Sie öffnete. Auf der Treppe stand Herman. Sie kannten sich aus der Zeit, als ihr Mann noch lebte. Henning war mit Herman gesegelt und hatte von ihm erzählt. Natürlich kannte Henning die Gerüchte über den Mord an dessen Stiefvater, hatte jedoch nie daran geglaubt. Er wäre ein guter Kamerad, sagte er immer von Herman.
    Beide waren von ähnlich leichtsinnigem Wesen, und sie vermutete, dass sich ihre Kameradschaft wohl vor allem in den Hafenkneipen entwickelt hatte.
    Als Herman in Marstal auftauchte, hatte er sich die Zeit genommen vorbeizuschauen und wegen Henning zu kondolieren. Das hatte sie ihm nicht vergessen und sie ihm gegenüber milder gestimmt, bis sie schließlich den berüchtigten Herman beinahe mit den Augen ihres verstorbenen Mannes sah.
    Seither hatte sie ihn nicht wieder gesprochen. Aber er grüßte stets freundlich, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Ein einziges Mal war er stehen geblieben, um sie zu fragen, ob es ihr an irgendetwas fehle.
    Nun stand er vor ihrer Tür. Überrascht tat sie einen Schritt zurück.
    «Ich wollte nur mal sehen, wie du zurechtkommst», sagte er und trat über die Schwelle, ohne ihre Einladung abzuwarten.
    Einen Augenblick standen sie nahe beieinander in dem engen Flur. Dann ging er in die Stube.
    «Tag auch», sagte er jovial zu Knud Erik und fuhr ihm durch das helle Haar, als wären sie alte Freunde.
    Knud Erik kannte ihn nicht und versuchte ihm auszuweichen.
    Klara blieb in der Tür stehen.
    «Er ist müde.»
    «Ich bleibe auch nicht lange.»
    Herman setzte sich aufs Sofa und schlug die Beine übereinander.
    «Ich höre, es geht dir gut.»
    Klara gab keine Antwort. Er musterte sie.
    «Der alte Madsen ist keine schlechte Partie.»
    Sie starrte mit festem Blick zurück.
    «Was meinst du?»
    «Was ich meine? Dasselbe wie alle anderen hier in der Stadt. Dass
Hochzeitsglocken in der Luft hängen. Dann seid ihr, du und deine Kinder, abgesichert. Das ist klug eingefädelt.»
    Klaras Gesicht war flammend rot geworden. Sie schlug die Augen nieder und biss sich auf die Unterlippe. Als sie wieder aufsah, vermied sie es, ihren Gast anzuschauen.
    «Das ist doch nur Gerede», sagte sie mit schwacher Stimme. Herman lehnte sich mit einem Gesichtsausdruck auf dem Sofa zurück, als gehörte ihm das Haus.
    «Nimm’s gelassen», sagte er, «ein Junge braucht einen Vater. Ich verstehe, der Alte ist gut zu Kindern. Vielleicht ist er nicht immer so umsichtig, aber ein bisschen Wasser hat ja noch niemandem geschadet.»
    «Was meinst du?»
    Ihre Frage kam wie ein Flüstern. Knud Erik stand zwischen ihnen und sah von einem zum anderen, doch Klara hatte seine Anwesenheit vergessen.
    «Na ja, der Junge ist doch eines Tages aus dem Boot gefallen und wäre beinahe ertrunken. Aber das hat Madsen dir doch wohl erzählt?»
    Klara durchfuhr ein Schreck. Sie wandte sich an Knud Erik.
    «Stimmt das, was Herman erzählt? Wärst du beinahe ertrunken?»
    Knud Erik sah auf den Boden und wurde rot.
    «Das war nichts. Ich bin nur ins Wasser gefallen.»
    Klara öffnete die Tür zum Flur.
    «Ich glaube, du musst jetzt gehen», sagte sie mit einer Stimme, die plötzlich wieder an Kraft gewonnen hatte.
    «Um Himmels willen, wenn man nicht willkommen ist.»
    Hermans kräftiger Körper erhob sich aus dem Sofa. Er ging auf die Tür zu.
    «Ich schau ein andermal vorbei.» Die Haustür fiel hinter ihm ins Schloss.
    Klara setzte sich auf einen Stuhl und faltete die Hände. Ihre Knöchel wurden weiß, und ihr Gesicht bekam einen konzentrierten Ausdruck. Der Junge starrte sie ängstlich an.
    Kurz darauf unterbrach sie die Stille.
    «Warum hast du mir nicht gesagt,

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