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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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    Hatte er begriffen, dass Weisheit kein selbstverständliches Resultat eines langen Lebens war?
     
    Wenn es etwas gab, das Albert und Klara verband, so war das die Sorge um Knud Erik. Sie hatte ein ungeheures Vertrauen in all seine Ansichten über den Jungen, obwohl er selbst kinderlos geblieben war.
    Klara war nicht wie der größte Teil der Frauen in Marstal. Wenn die Männer sich auf See befanden, mussten sie gezwungenermaßen die Rolle von Vater und Mutter übernehmen. Sie hatten keine Wahl. Waren sie unsicher, verbargen sie es hinter einem herrischen, beinahe harten Ton. Viele Monate in jedem Jahr, manchmal auch mehrere Jahre, durchlebten sie die Generalprobe zum Witwenstand.
    Klara Friis hatte nun das für eine Frau aus Marstal so seltene Privileg, einen Mann im Haus zu haben, und durch diesen unerwarteten Luxus gab sie einer inneren Schwäche nach, die sie eigentlich hätte bekämpfen müssen.
    Sie gab die Dinge aus der Hand. Sie traf keine Entscheidungen. Sie schaute auf Albert, als erwartete sie, dass er von nun an das Leben für sie regelte.
    Nur in einem Punkt gab sie nicht nach. Knud Erik durfte seinem Vater nicht folgen. Sie hatte in der Muschel das Rauschen des Todes vernommen.
Ihr Sohn sollte niemals zur See gehen. Als würde sie bei diesem Thema aus einem Phlegma erwachen, in das sie bei Alberts Anwesenheit sonst versunken zu sein schien. Sie richtete sich dann in ihrem Stuhl auf, und in ihrer Stimme lag eine ungewohnte Schärfe.
    Der Junge zog den Kopf ein, wenn Klara Friis dieses Thema anschnitt. Albert hatte gehört, wie er der Mutter das Versprechen gab, niemals Seemann zu werden. Nun sah er das schlechte Gewissen in seinem Gesicht. Er spürte es geradezu körperlich, obwohl er persönlich längst entschieden hatte, dass es gar nicht anders vorstellbar war. Er stellte ja einen Teil der Inspiration des Jungen dar. Alberts Geschichten, ihre endlosen Gespräche über fremde Länder und Schiffe, der Unterricht im Rudern und Wriggen, alles trieb den empfänglichen Jungen doch in eine einzige Richtung. Und dann gab es noch all die Dinge, die außerhalb der Kontrolle einer Mutter oder eines Vaters lagen, das ewige Rauschen des Meeres vor der Mole, der bloße Anblick der Topp- und Bramsegelschoner, der Barkentinen, wenn die Segel sich im ersten Frühjahr mit Wind füllten und der große Zug über die Weltmeere begann: mit Anlauforten wie Rio Plata, Neufundland, Oporto, Le Havre, Valparaiso, Callao und Sydney, legendäre Häfen, die selbst kleine Jungen kannten und ihre Seelen lockten.
    Klara Friis wusste das. In ihrer Schärfe lag auch eine Bitte, und sie war an Albert gerichtet. Er verfügte über die Mittel, den Jungen von der vorgezeichneten Bahn abzubringen.
    Sie sah von ihrem Sohn zu dem alten Mann und wieder zurück, ahnte eine Verschwörung zwischen ihnen.
    «Was macht das Lesen?», fragte sie.
    «Gut», erwiderte Knud Erik mit dieser Einsilbigkeit, die Kinder an den Tag legen können, wenn es um Fragen der Schule geht.
    «Er hat gerade erst mit der zweiten Klasse begonnen, aber er liest bereits fließend», lobte Albert den Jungen anerkennend.
    Klara sah Albert an.
    «Er versteht sich also auf Bücher», konstatierte sie. «Vielleicht würde er sich zum Schiffsmakler eignen?»
    Die Frage überrumpelte Albert. Er musste sich eingestehen, dass ihm dieser Weg für den Jungen nie in den Sinn gekommen war. Seiner Meinung nach begann die Karriere eines guten Schiffsmaklers niemals in einem Kontor. Die Grundlagen wurden an Deck gelegt, erst dann konnte
an die eher abstrakte Welt der Frachtraten gedacht werden. So war es bei ihm gewesen, und er hätte es gern gesehen, wenn die Schiffsmakler es auch in Zukunft so hielten.
    «Das würde er ganz sicher», erwiderte er, aber es schwang etwas Ausweichendes in seiner Antwort mit. Er brachte es nicht über sich, ihr seine Ideen zu erklären.
    Sie spürte seine mangelnde Begeisterung und fasste seine Antwort so auf, als wollte er dem Jungen nicht helfen. Ihr Mund wurde zu einem schmalen Strich, und sie sagte kein weiteres Wort mehr.
    «Mit guten Noten kann man ja vieles werden. Es ist wohl auch noch zu früh, um …»
    «Ich weiß genau, was du sagen willst», unterbrach sie ihn. «Du willst sagen, dass man mit guten Kenntnissen auch das Steuermannspatent machen kann. Aber glaub mir, das ist nicht der Weg, den mein Sohn gehen soll.»
    Sie wandte sich an den Jungen. «Hörst du, Knud Erik.»
    Der Junge nickte stumm und schlug die Augen nieder. Eine

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