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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Beisammensein am Esstisch oder bei einer Tasse Kaffee gegeben. Nun lag über ihren Begegnungen eine angespannte, wie elektrisch aufgeladene Ungeduld; sie warteten nur darauf, allein zu sein, ohne den Jungen.
    Die kleine Edith krabbelte auf dem Fußboden und sprach ihre ersten Worte. Er war immer verlegen, wenn sie an seinen Hosenbeinen zog und ihm einen erwartungsvollen Blick zuwarf. Dann bückte er sich, hob sie hoch, setzte sie aufs Knie und ließ sie hüpfen. Sein Gesichtsausdruck war starr, und er wusste nicht, was er sagen sollte. Wahrscheinlich «Hoppe, hoppe Reiter». Doch er blieb stumm.
    «Papa», sagte sie eine Tages.
    Er sah hinüber zu Klara, die verlegen lächelte.
    «Ich weiß nicht, woher sie das hat. Von mir stammt es nicht.» Wuchs in einem Kind die Sprache so wie die Milchzähne? War das Wort «Papa» bloß ein Teil eines größer werdenden Wortschatzes?
    Er hörte auf, mit dem Knie zu schaukeln. Schluss mit «Hoppe, hoppe Reiter». Er sah das Kind vor sich eindringlich an.
    «Nein», sagte er. «Nicht Papa. Albert.» Edith begann zu weinen.
     
    Irgendeine Vertraulichkeit entwickelte sich zwischen ihnen nicht. Nie verbrachten sie eine Nacht miteinander, ja, sie erlebten sich auch niemals entkleidet oder nach dem Liebesakt ermattet in einem Augenblick zärtlicher Ruhe. Im Gegenteil, immer waren sie hektisch, beinahe feindselig bei ihren Begegnungen. Nie nahm er sie in die Arme, ohne dass sich seine
Brust in ein Schlachtfeld verwandelte. Er sperrte sich dagegen, doch die Anziehungskraft war stärker, und als Resultat nahm er sie jedes Mal mit einer Rücksichtslosigkeit, die er hinterher bereute. Wenn sie sich laut seinen Stößen hingab, wusste er nie, ob es aus Ekstase oder Schmerz geschah. Er selbst kam mit einem Laut zum Höhepunkt, als hätte ihm jemand einen Schlag in den Magen versetzt.
    Er schlug sie nicht mehr, aber er wusste genau, dass er es nur deshalb nicht tat, weil sein erster Schlag einen Beweis in ihrem Gesicht hinterlassen hatte, der für die ganze Stadt sichtbar war. Nur die Angst um seinen Ruf gab ihm die Kraft, seine Hand im Zaum zu halten, wenn ihn der Drang überkam, ihr wehzutun. O ja, sein erigiertes Glied konnte denselben Effekt erzielen wie ein Schlag, konnte ihr Schmerzen zufügen – doch hier wurde er von seinem Alter gebremst. Er war nicht mehr so ausdauernd wie früher.
    Sie liebten sich wie zwei Menschen, die bereits an andere gebunden waren und sich nur heimlich treffen konnten, kurz und atemlos. Und tatsächlich verhielt es sich ja auch so: Sie waren beide mit der Gegenseite verheiratet, er mit dem Alter und sie mit der Jugend. Die Brücke, auf der sie sich treffen konnten, wurde brüchig, sobald sie sie betraten. Er verstand sich nicht, er verstand sie nicht, und er wusste, dass er keine Antwort bekäme, wenn er sie nach ihren Gefühlen für ihn fragte.
     
    Es hörte nicht auf. Knud Erik ging wieder zur Schule, und ein regnerischer Herbst vertrieb sie vom Meer. Sie mussten sich andere Dinge überlegen. Knud Erik besuchte ihn häufig am Nachmittag. Sie machten Schularbeiten, während es draußen dunkel wurde. Albert besuchte sie in der Snaregade, doch Klara kam nie zu ihm nach Hause. Es wurde zu einem ungeschriebenen Gesetz. Niemand hatte die Worte ausgesprochen, doch sie standen zwischen ihnen. Er konnte sich in ihrer Welt bewegen, sie aber nicht in seiner.
     
    Die Witwe des Marinemalers besuchte Albert nicht mehr. Es war das sicherste Zeichen, dass er sich schämte. Wusste die ganze Stadt, was hier vorging? Er war davon überzeugt. Er konnte es nicht wirklich beweisen, doch Signale dafür fand er überall. Ein Starren von Passanten, ein Gespräch auf einer Bank, das unterbrochen wurde, wenn er vorbeikam,
der Gruß eines Händlers, in dem plötzlich etwas Zurückhaltendes über das Heitere triumphierte.
    Bisweilen begegnete er Herman. Nach ihrem Zusammenstoß sprach ihn der junge Mann nicht mehr an. Er grüßte lediglich ironisch mit einem Finger am Hut oder grinste unverfroren, als wären sie Verschworene. Albert ignorierte ihn, und doch war er beunruhigt darüber, dass sie sich so häufig begegneten, wenn er auf dem Weg in die Snaregade war oder von dort kam. Hatte dieser Herumtreiber nichts anderes zu tun, als ihm nachzuspionieren?
     
    Wir sahen ihn spätabends im Erker zur Prinsegade sitzen. Er hatte ein Buch in der Hand und versuchte zu lesen. Doch die meiste Zeit starrte er bloß in die Luft.
    Woran dachte er wohl? Er war alt. Aber Frieden hatte er nicht

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