Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
Friis. Er hatte sich vorbereitet und war nicht verwundert, als er eine jüngere, bescheiden gekleidete Frau an der Spitze einer der renommiertesten Reedereien der Stadt antraf. Er wusste von Albert Madsen und seiner Allianz mit der Witwe in Le Havre; er wusste, dass die letzten großen Barken des Landes, die wunderbaren Schiffe Suzanne, Germaine und Claudia hier in der Prinsegade beheimatet waren. Es gab nur eine einzige Sache, die er bei seinen Vorbereitungen nicht mit einbezog. Er hatte nicht in Klara Friis’ Herz oder ihr Bankschließfach sehen können. Er wusste nicht, wie hoch ihr Vermögen war, und vor allem wusste er nichts von ihren Geldanlageplänen. Nur wenn er wie ein Dschingis Khan gekommen wäre, um die Stadt in Schutt und Asche zu legen, hätte sie ihn willkommen geheißen. Aber er kam als ein Alexander der Große, um noch eine Stadt zu gründen, und daher empfing sie ihn als Feindin.
    Aus den Überresten der Segelschifffahrt, die Marstal einst hatte erblühen lassen, wollte er ein neues Marstal bauen. Kein Ende, sondern eine neue Blüte bot er uns an. Hier sollte kein Schwanengesang ertönen, sondern ein Willkommenssalut an die neue Zeit.
    Er rührte etwas in uns an. Einst hatten wir den Fortschritt kommen sehen, lange vor den meisten anderen, und wir waren aufgestanden, um ihn zu begrüßen. Nun bat Isaksen uns, es erneut zu tun.
     
    Klara Friis hatte sich lange überlegt, was sie tragen solle, wenn sie Frederik Isaksen empfing. Sie entschloss sich, in ihren gewöhnlichen, bescheidenen Sachen zu erscheinen und in keiner Weise aufzufallen; weder wollte sie ihren Reichtum noch ihre frisch erworbene Zielstrebigkeit zur Schau stellen, und vor allem keinen verführerischen Eindruck machen. Für diese Rolle besaß sie im Übrigen auch nicht die Voraussetzungen; nicht weil sie verblüht gewesen wäre, sondern weil sie nicht allzu viel von ihrem eigenen Aussehen hielt. Sie fand es passender, in die Rolle zurückzufallen, die sie jahrelang gespielt hatte; so gut, dass sie am Ende selbst ganz und gar überzeugt davon war: ein bis zur Selbstentäußerung bescheidenes
Wesen, das keine anderen Gefühlsregungen zuließ als eine bittere Bemerkung über ihre stiefmütterliche Behandlung durch das Leben. Sie konnte so tun, als wäre sie nicht gerade beschränkt, aber doch starr vor Angst und den mangelnden Fähigkeiten, die große, weite Welt zu verstehen, in der die Männer sich bewegten – es war ungefähr der gleiche ohnmächtige Zustand, den sie den drei Witwen empfahl. Was immer Isaksen auch sagte, sie behielt denselben Gesichtsausdruck bei, ein zögerndes, mechanisches Lächeln und Nicken, dessen Bedeutung sofort durch die Leere in ihrem Blick – der deutlich zu verstehen gab, dass sie nichts von all dem verstand, was gesagt wurde, sondern lediglich mit der üblichen Nachgiebigkeit reagierte, die so kennzeichnend für ihr Geschlecht und dessen Unterwürfigkeit war – aufgehoben wurde.
    Doch Isaksen ließ nicht locker. Er begann, seine Argumente anders zu formulieren, seine Bilder einfacher und verständlicher zu beschreiben. Er sprach sogar vom unsicheren Leben der Seeleute und wollte sie überzeugen, dass das, was er vorschlug, ein Leben war, das auch den Familien helfen und sie von der ständigen Angst um das Schicksal der Männer befreien würde.
    «Denken Sie daran, was eine große, gut geführte Reederei für die Lebensbedingungen der Seeleute tun kann. Regelmäßiger Urlaub, Sicherheit an Bord, keinerlei Not, die die kleinen Skipper zwingt, wie momentan auf einem gefährlichen Meer ein unnötiges Risiko einzugehen.»
    Er suchte mit seinen braunen Augen ihren Blick. Dass sie von dichten Wimpern bekränzt wurden, sah sie erst jetzt. Seine Stimme wurde eindringlich. Er fand sich nicht ab mit diesem leeren Blick als Reaktion auf seine Worte. Sie spürte die Versuchung nachzugeben und wurde im selben Augenblick von einem wohlbekannten Entsetzen gepackt. Wieder sah sie vor ihrem geistigen Auge das dunkle Wasser in der Sturmnacht, das sich auftürmte und nach dem Dach griff, auf dem sie saß. Karla, die in den Wassermassen verschwand, der Dachfirst, der ihr in den Schritt drückte, als sie auf ihm ritt wie auf einem der Holzpferde, die in den Geschichtsbüchern aufsässigen Bauern als Strafe vorbehalten waren. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn.
    Sie wurde blass und musste aufstehen; bat ihn zu gehen, während sie sich mit schwacher Stimme für ihre plötzlichen Kopfschmerzen entschuldigte.

    Isaksen

Weitere Kostenlose Bücher