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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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angestellt, als wir geahnt haben. Gespartes Kapital, keine Schulden. Ein Mann mit der entsprechenden Einsatzbereitschaft kann die Reederei richtig groß machen. Also, Isaksen könnte deinen Plänen sehr wohl in die Quere kommen.»
    Isaksen wurde auf Empfehlung der Kapitäne eingestellt und kam an einem Sommertag Mitte August. Er hatte das verwirrende System von Fähren und Zügen, das eine Reise aus der Hauptstadt nach Marstal so beschwerlich gestaltete, einfach ignoriert und war direkt mit dem Paketboot gekommen, das sonst nur Passagiere gewöhnlicherer Art beförderte. Er stand an Deck und warf den Wartenden am Kai geschickt die Trosse zum Festmachen zu, dann sprang er selbst hinauf und grüßte mit dem breitkrempigen Strohhut, als wollte er der ganzen Stadt guten Tag sagen.
    Er trug einen weißen Flachsleinwandanzug. Im Knopfloch steckte eine frische Nelke, und unter dem Strohhut war dunkle Haut zu sehen – sonnengebräunt wie ein Seemann, oder war das möglicherweise seine normale Gesichtsfarbe? Er hatte braune Augen, bekränzt von dichten Wimpern, die ihm ein gleichzeitig sanftes wie geheimnisvolles Aussehen verliehen.
    Er war ohne Zweifel ein Weltmann, und als er den Hut hob, grüßten wir zurück. Wir hatten nichts gegen Weltmänner. Wir waren selbst welche und hatten an Menschen, die sich klein machten und schüchtern verhielten, um sich bei uns einzuschmeicheln, keinen Bedarf. Sie durften gern prahlen, Hauptsache, sie hatten etwas, womit sie prahlen konnten.
    Und Isaksen hatte etwas, und je mehr Tage vergingen, desto größer wurde es. Der Skipper des Paketboots, Asmus Nikolajsen, hatte sich den ganzen Weg von Seeland bis Marstal mit ihm unterhalten und schätzte ihn als offenen und kenntnisreichen Mann, der sich neugierig nach allen möglichen Dingen erkundigte. Dieser Fremde, dessen Aussehen, gemessen am üblichen Standard, durchaus eine Spur exotisch war, wusste bald mehr über die Transportfahrten mit dem Paketboot als er selbst. Isaksen kannte sich offensichtlich gut mit Schiffen aus, und obwohl er
routiniert mithalf, hatte er es während der ganzen Zeit geschickt vermieden, sich seinen eleganten Anzug schmutzig zu machen. Eine Tatsache, die Nikolajsens nur noch mehr Respekt abnötigte, denn ein Seemann legt Wert auf Sauberkeit.
    Die große Frage war natürlich: Fand Isaksen eine Gesprächsbasis mit den Witwen?
     
    Zunächst sprach er mit uns. Er ging im Hafen umher und setzte sich zu den alten Kapitänen auf die Bänke. Er klopfte an die Türen der Maklerkontore, trat ein, lüpfte den Hut und teilte sogleich mit, dass er nicht als Konkurrent komme, der beim Feind spionieren wolle. Er kam, weil er spürte, dass diese Stadt aus einer Gemeinschaft bestand. Und nur wenn alle zusammenstanden und alle gegenseitigen Empfindlichkeiten vergessen würden, wenn sie kurz gesagt wagten, Großes zu denken, könnten sie die Herausforderungen der Zukunft meistern.
    Es war, als hörte man noch einmal Albert und seine Rede am Gedenkstein. Vor wenigen Jahren erst hatten wir davor gestanden, doch uns kam es bereits vor, als wäre es Menschenalter her. Wir verstanden nun, dass 1913, an jenem Tag am Hafen, eine Epoche zu Ende gegangen war, ohne dass ein Einziger von uns es geahnt hatte.
    Es lag Zauberei in Isaksens Rede: Er brachte uns dazu, die Dinge von außen zu betrachten. Die Anteilsreedereien hatten uns ein gutes Stück des Weges vorangebracht. Nun war die Zeit des kleinen Geldes vorbei. Kapital war in anderen, größeren Summen erforderlich als das, was ein Dienstmädchen oder ein Schiffsjunge, ja sogar ein tüchtiger Kapitän aufbringen konnte. Investitionen waren notwendig, und große Investitionen erforderten großes Geld. Kapital gab es in der Stadt ja genug. Es ging nur darum, es richtig einzusetzen.
    «Ich schlage vor, dass das Kapital der Stadt in einigen wenigen Händen versammelt wird. Das ist der einzige Weg, wie wir die Schifffahrt und die Kontrolle darüber hier in Marstal behalten können.»
    Was wollte er damit andeuten? Es gab einige, die meinten, dass er zu sehr an den Projektemacher Henckel erinnerte, der uns die halbe Welt versprach, uns stattdessen jedoch das Geld aus den Taschen zog. Aber eigentlich war klar, dass es sich mit Isaksen genau umgekehrt verhielt. Er wollte nicht unser Geld haben, sondern unser Kompass sein. Er wollte
den Kurs abstecken, nicht nur für eine Reederei, sondern für die ganze Stadt.
     
    Nur an einem Ort stieß er auf Feindseligkeit: bei seinem Zusammentreffen mit Klara

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