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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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den Anschluss an die Zukunft. Doch mit Marstal verhält es sich anders. Ihr habt einen eigenen Schiffstypus geschaffen und nach eurer Stadt benannt – ein Schiff mit einem herzförmigen Achterspiegel und einem abgerundeten, stumpfen Bug. Ihr habt so lange probiert, bis es euren Zwecken am ehesten entsprach. Eure Tradition ist die Umtriebigkeit. Vielleicht haltet ihr das für ein hässliches Wort, und aus dem Mund eines Bauern ist es das auch; denn ein umtriebiger Mensch ist ein Mensch, der nicht verwurzelt ist und dem es daher scheinbar an Stabilität fehlt, eben weil er nicht das tut, was sein Vater vor ihm getan hat. Aber denkt nach über das Wort als die Seeleute, die ihr seid. Umtriebigkeit – das ist die Gabe, den richtigen Moment zu erwischen, wenn der Wind und die Strömung mit euch sind, und dann den Anker zu lichten und die Segel zu setzen. Ihr habt doch bestimmt von dem Engländer Darwin und seiner berühmten Theorie über the survival of the fittest gehört, und wahrscheinlich hat auch irgendjemand euch schon einmal erklärt, dass the fittest ‹der Stärkste› bedeutet und Darwin der Ansicht war, nur die Stärksten würden überleben. Aber das meint er nicht. The fittest bedeutet ‹die Umtriebigsten›, und das seid ihr. Ihr habt eure Stadt auf die gleiche Weise geschaffen, wie ihr segelt: Ihr habt es verstanden, euch durch alle Widrigkeiten des Lebens zu manövrieren. Diese Fertigkeit nehmt ihr mit euch, aber die Schiffe, auf deren Deck ihr sie gelernt habt, müsst ihr verlassen, denn sie sinken unter euren Füßen. Die Ära der Segelschiffe ist längst vorbei, aber das Zeitalter der Seeleute hat gerade erst begonnen. Glaubt mir, eine Stadt, die seit Generationen die Heimat von Seeleuten ist, besitzt ein einzigartiges Kapital in einer Welt, in der alles transportiert werden muss, weil die Kontinente näher zusammenrücken. Nur müsst ihr von nun an eure Fertigkeiten auf einem Schiffsdeck entfalten, das unter den Vibrationen der kraftvollen Maschinen erzittert, die darunter arbeiten.»
    Er präsentierte uns die gleiche Vision, die er in den vorhergegangenen Tagen in den Maklerbüros der Stadt entwickelt hatte. Allerdings ging er noch einen Schritt weiter. Er vertraute uns die Geheimnisse über die Zukunft der Reederei an, die er den anderen vorenthalten hatte. Er prophezeite, dass die Reederei im Lauf der Zeit mit den übrigen Reedereien der Stadt zusammengelegt werde, bis es in der Stadt nur noch eine einzige große Schifffahrtsgesellschaft gebe, die nicht nur über reichlich Kapital
verfüge, sondern vor allen Dingen über Erfahrung, jahrhundertelange Erfahrung – diese Kombination aus Überlebenswille, Einfallsreichtum, Beharrlichkeit und Weitsicht, die hinter dem Bau der Mole, der Einführung des Telegrafen und dem Aufbau einer der größten Handelsflotten des Landes stand. Und die selbst jetzt, in der Zeit des Niedergangs der Stadt, dazu beitrug, dass wir niemals den Kampf aufgaben, neue, vergessene Ecken auf diesem Planeten zu entdecken, die wir mit unseren längst veralteten Schiffen ansteuern konnten.
    Isaksen hielt die Finger in die Höhe und zählte sie ab: Überlebenswille, Einfallsreichtum, Beharrlichkeit, Weitsicht und vor allem die Fähigkeit, sich als Gemeinschaft zusammenzufinden, wenn für den Einzelnen etwas undurchführbar schien. Es waren fünf Finger, eine ganze Hand. Es war die Hand der Umtriebigkeit, welche die sich bietenden Chancen immer ergriff.
    «Die beste Hand, die es gibt», sagte Isaksen, «denn mit ihr könnt ihr die Zukunft nach eurer eigenen Vorstellung formen, und genau das sollt ihr tun.
    Eine Werft besitzt die Reederei bereits. Das ist wichtig, denn es geht darum, alle Bereiche der Schifffahrt zu kontrollieren, beim Bau des Schiffs angefangen bis hin zur Fracht. Aber die Werft muss komplett umgestellt werden, nicht nur auf Stahlschiffe, sondern auch auf Dampf-und Motorschiffe. So können wir den Preis jedes einzelnen Schiffs kontrollieren, das wir im Namen der Reederei vom Stapel lassen. Auch hier sind die Voraussetzungen bereits gegeben. An tüchtigen und erfahrenen Schiffbauern fehlt es in der Stadt ja nicht. Aber eine größere Tonnage ist notwendig. Die Fahrrinne zur Stadt muss vertieft werden, damit die neuen Schiffe auslaufen können. Wir müssen unseren eigenen Suezkanal quer durch das flache Inselmeer Südfünens bis zum offenen Wasser der Ostsee bauen.
    Auch um den Schiffsproviant müssen wir uns kümmern und einen eigenen Handel aufbauen, der nicht nur

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