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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Kauf oder Verkauf. Die ganze Welt schien ihre Aufmerksamkeit zu verlangen. Jede Information, jede Zahl, jedes Fragezeichen war eine schier unüberwindlich scheinende Herausforderung. Niemand hat sie je mit an den Ohren gepressten Händen gesehen – es war aber durchaus vorstellbar. Jeder einzelne Beschluss wurde so lange gedreht und gewendet, bis es für eine Entscheidung zu spät war. Die Dampfer Enigheden, Energi, Fremtiden, Maalet und Dynamik waren gebaut worden, um große Lasten sicher übers Meer zu transportieren, nun lagen sie den größten Teil der Zeit ungenutzt im Hafen – nicht nur wegen der ungünstigen Zeiten oder der schlechten Konjunktur, sondern auch wegen der Unentschlossenheit ihrer Eigentümerinnen.
    Ellen, die Älteste, war die Witwe von Poul Victor, groß gewachsen und stattlich wie er. Doch die Willensstärke, die sie einstmals besessen zu haben schien, hatte sie ihrem geschäftstüchtigen Ehemann übertragen, und er hatte sie ihr nicht zurückgegeben, als er ins Grab sank. Emma und Johanne, die beiden Schwestern, waren selbstbewusster – in ihrem eigenen Heim waren sie die Alleinherrscherinnen, auf fremdem Grund jedoch hilflos. Sie schielten hinüber zu Ellen und erwarteten ihren Entschluss. Und Ellen schielte zum Friedhof, von dem allerdings nicht der geringste Hinweis kam.
    Die Witwen besaßen erhebliche Ländereien in der Stadt, die sie nun zu verkaufen begannen. Klara Friis erwarb sie. Sie saß in der Prinsegade und belauerte die drei Witwen, wie ein Geier ein armes Tier belauert, das vor Durst und Erschöpfung zu straucheln beginnt. Mit dem Ankauf von drei Grundstücken schnappte sie sich den ersten großen Happen.
    Die drei Grundstücke lagen alle an der Havnegade; das erste an der Ecke zur Sølvgade, das zweite an der Ecke der Strandstræde, und das dritte war ein großes eingezäuntes Feld, das am Ende der Havnegade die Stadt begrenzte. Hinter der Einzäunung hatte Bauern-Sofus seinerzeit Schafe grasen lassen und Hühner und Schweine gehalten, als lebenden
Proviant für seine ständig wachsende Schiffsflotte. Diese Zeiten waren längst vorbei. Das Feld lag brach, und der Kauf leuchtete allen ein; bei den anderen ungenutzten Grundstücken verhielt es sich ebenso. Hier konnte gebaut werden.
    Doch Klara Friis unternahm nichts. Die Brennnesseln auf den drei Grundstücken wucherten immer höher, und die von Bauern-Sofus gepflanzten Apfel- und Birnbäume, mussten ihre Früchte den Vögeln und diebischen Burschen überlassen. Marstal wunderte sich. Was hatte sie vor?
    Wir fragten, aber wir fragten nicht eindringlich genug, sonst hätten wir geahnt, was uns erwartete.
     
    Äußerlich hatte Klara Friis sich nicht verändert. Noch immer kleidete sie sich bescheiden, als wäre sie sich der Veränderung ihres Standes überhaupt nicht bewusst; daher hinterließ sie bei den drei Witwen, die Sparsamkeit als eine Tugend betrachteten, einen guten Eindruck. Sie waren keineswegs hochmütig und sahen auch nicht auf Klara Friis herab, obwohl ihr eigener Reichtum weit ältere Wurzeln hatte. Klara Friis war das Geld ja eher zugefallen. Die Witwen waren seit mehreren Generationen von Dienstboten umgeben, und doch übernahmen sie ihren Teil der täglichen Hausarbeit. Die Vanillekringel hatten sie selbst gebacken. Jedes Jahr zu Weihnachten produzierten sie eine große Menge, die mit der Zeit ebenso hart wurde wie der Schiffszwieback, aus dem die tägliche Kost an Bord der Schiffe ihrer Reederei bestand – nur mit dem Unterschied, dass aus den Vanillekringeln kein Wurm fiel, wenn man damit fest auf den Tisch klopfte.
    Bauern-Sofus war ein einfacher Mann aus dem Volk gewesen, und mit seinen Kindern und Enkelkindern verhielt es sich ebenso. Sie bildeten keine eigene Kaste, sie gehörten zur Stadt wie alle anderen. Sie wussten, dass das Geld durch die Schufterei der Seeleute verdient wurde. Jeder der späteren Eigentümer hatte sich erst durch die brutale Hierarchie der Schiffsbesatzungen arbeiten müssen, bevor er ins Maklerkontor oder in die Leitung der Reederei übernommen wurde. Jedes Wort, das man auf den täglichen Konferenzen sprach, war für sie erlebte Wirklichkeit gewesen. Für ihre Witwen jedoch, die ganz unvermittelt mit dieser neuen Welt konfrontiert wurden, war es ein Schlachtfeld, auf dem ihnen unbekannte
Worte und Begriffe wie todbringende Projektile um die Ohren flogen.
    Es kam vor, dass Klara Friis ihnen einen guten Rat gab oder eine plötzliche Initiative zeigte, die sie vollkommen

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